Das Rathaus Reutlingen (Fotografin Rose Hajdu, www.rosehajdu.de)

Bauten und Plätze der 1960er und 1970er Jahre prägen vielerorts unsere Städte oder setzen markante Akzente. Die heute oft als Klötze gescholtenen Großbauten sind in die Jahre gekommen: Sie bedürfen daher der Pflege und ganz besonders der Vermittlung ihrer Qualitäten an die breite Öffentlichkeit. (BHU)

Die Tagung “Klötze und Plätze – Wege zu einem neuen Bewusstsein für Großbauten der 1960er und 1070er Jahre” im Reutlinger Rathaus war auch für urbanophil und die jungen Initiativen wie z.B die Werkstatt Baukultur Bonn ein großer Erfolg – wurden Sie doch als wichtige Partner und Akteure vor Ort zur Vermittlung von baukulturellen Werten angesehen. Das vielseitige und ambitionierte Programm weckte hohe Erwartungen, die von Veranstaltern und Vortragenden in aller Form erfüllt wurden.

Der Tagungsort, das Rathaus Reutlingen, war für die Veranstaltung ein passender Ort, war es doch ansinnen der Tagung, die Vielzahl zeittypischer Großbauten und exemplarisch Rathäuser der 1960er und 1970er Jahre zu untersuchen. Und mit dem Rathaus in Reutlingen war damit ein exzellentes Beispiel gefunden, denn

dieses Rathaus baut diese Stadt nicht für diesen Gemeinderat, nicht für diesen Bürgermeister und nicht für diese Beamten, sondern für diese Bürger, für heute, morgen und für die ferne Zukunft. Das soll ein Bauwerk werden, das vor der Geschichte bestehen kann ebenso auch wie unsere Kirchen, das Spendhaus, das Friedrich-List-Gymnasium, das Heimatmuseum, unsere Schulen, unsere Siedlungen und unsere Bürgerhäuser. (Oberbürgermeister Oskar Kalbfell, 1961)

und repräsentiert damit einen Bautypus, der als Ort städtischer Repräsentation und Identifikation geplant wurde, dessen Foyer und Außenräume ausdrücklich öffentlich und Ausdruck der Demokratie sein sollten.

Die Tagung startete mit einer grundsätzlichen Annäherung an die Gebäude der 1960er und 1970er Jahre. Die Einordnung in die damalige gesellschaftliche Situation – welche Fragestellungen und grundsätzlichen Rahmenbedingungen bewegten die Menschen damals? – diente als wichtige Einführung um auch ein Gefühl für die Zeit und ein Verständnis für die damalige Architektursprache zu entwickeln. Darüber hinaus wurde immer wieder darauf hingewisen, dass für viele Stadtbürgerinnen und Stadtbürger die Bauten der 1960er und 1970er Jahre zum selbstverständlichen Stadtbild gehören, Identität prägen und Heimatgefühle wecken, gleichzeitig bei anderen aber auch Abneigung und Unverständnis hervorrufen. Die Themen Inventarisierung und systematische Aufarbeitung, konkrete Kriterienbildung sowie Material und Komposition von Innen und Außen bestimmten die Präsentationen und Diskussionen des Nachmittags. Eine Führung durch Reutlingen (mit Pressebegleitung!) zeigte am Abend die “Klötze” Reutlingens in einem schönen Licht.

Der zweite Tag beschäftigte sich mit den heutigen Herausforderungen von Großbauten der 1960er und 1970er Jahre, zeigte beispielhaft die Probleme der Akzeptanz und beleuchtete einzelne Projekte. Der zweite Teil des Tages stand unter dem Themen Vermittlungsarbeit und neues Bewusstsein, zu dem auch urbanophil einen Beitrag leistete. Die Abschlussdiskussion stellte noch einmal deutlich heraus, dass die Gebäude der 1960er und 1970er Jahre eine eigene, gut vernetzte Lobby braucht, die zusammen Kriterien für den Erhalt der Gebäude entwickelt und gleichsam eine engmaschige Öffentlichkeitsarbeit leistet. Dass junge Netzwerke und Initiativen einen entsprechenden Beitrag dazu leisten können, stand am Ende des Tages ausser Frage.

Was hat die Tagung gebracht? Sie zeigte eindrücklich, dass die 1960er- und 1970er-Jahre Gebäude eine Menge Symphatisanten aus den unterschiedlichsten Fachdisziplinen rekrutieren kann. Weitere Schritte, die für den Erhalt der Gebäude erforderlich sind, werden folgen, der Grundstein eines Netzwerkes ist gelegt. Die Vermittlungsarbeit benötigt viele Akteure, die sich für diese Gebäude einsetzen.

Treppenstufen in höchster Eleganz (Fotografin Rose Hajdu)

Wie die Schönheit eines “Klotzes” vermittelt werden kann, wurde den Teilnehmenden der Tagung durch eine Fotoausstellung im Foyer des Rathauses gezeigt. Die Fotografin Rose Hajdu aus Stuttgart fotografierte 2011 das Rathaus in all seinen Facetten und Schönheiten. Verglichen mit Bildern aus der Vergangenheit ergab sich ein komplettes Bild eines wohl-komponierten Gebäudes, dass außen wie innen einer klaren Gestaltungslinie folgt. Über das Rathaus Reutlingen ist nun auch ein schöner Bildband mit diesen Fotografien entstanden. Aber auch dieses Gebäude ist noch nicht endgültig gerettet – so wurden zwar bereits Teile des Gebäudes saniert, andere stehen aber noch nicht ganz von der Abrißliste. Es lohnt sich ein Gang durch Flure und das Foyer vorm Ratssaal, mit offenen Augen auf Einrichtungsgegenstände. Hier gibt es weitere Eindrücke.