„Schmuck als urbaner Prozess“ ist ein Forschungsprojekt, das vom Fachbereich Design der Hochschule Düsseldorf entwickelt und durchgeführt wurde. Die Professorinnen Elisabeth Holder und Gabi Schillig luden ihre Studierende ein, die Bedeutung und die Potentiale von Schmuck im urbanen Raum zu untersuchen und haben dazu gemeinsam verschiedene Experimente durchgeführt. Das unlängst im Wasmuth Verlag erschienene Buch „Schmuck als urbaner Prozess – Künstlerische Handlungen im städtischen Raum“ dokumentiert den Projektverlauf, die Interventionen und Arbeiten der Studierenden sowie die Ergebnisse und Produkte, die daraus entstanden sind.

„Realität entwickelt sich, wenn Menschen miteinander kommunizieren“

so schreibt Gabi Schillig in der Einführung des Buches. Aber was haben die Konzepte des Schmucks, der Kommunikation und urbane Prozesse überhaupt gemeinsam? Für Schillig hat der Schmuck zwei Dimensionen: Er ist zugleich ein autonomes Objekt und ein getragener Gegenstand. Aus diesem sehr persönlichen Standpunkt entfaltet sich ein Dialogbegriff, denn Schmuck ist ­– Schillig zu Folge – nicht nur als „angefertigtes Ding“ zu sehen, sondern gleichsam auch als Anlass, der einen dialogischen Umgang mit Material ermöglicht. Im Rahmen von „Schmuck als urbaner Prozess“ geht es also besonders um die Untersuchung „multidimensionaler Bezüge des Menschen zu Räumen“. Dies ist eine Fragestellung, die nicht nur im Mittelpunkt von Schilligs und Holders eigener Arbeit und ihrem Unterricht steht, sondern durch das Projekt auch im Mittelpunkt von „Schmuck als urbaner Prozess“.

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Auf eine einfache Gleichung gebracht könnte über dem gesamten Projekt stehen: Der Mensch ist von seiner Umwelt beeinflusst wie auch er seine Umwelt beeinflusst. Wie aber nimmt der Mensch seine Umwelt wahr und wie hat sich seine Wahrnehmungsweise im Laufe der Generationen verändert? Dieser Punkt wird besonders durch die von Schillig zitierten Aussagen von Byung-Chul Han aufgegriffen, der mit seiner Ausführung zum rein visuellen Erleben des Raums durch Menschen den Kern einer der relevantesten zeitgenössischen Fragestellungen trifft. Nach ihm werden Informationen heute primär im privaten Raum produziert und auch ins Private kommuniziert, wodurch die Wahrnehmungsorgane verarmen und somit auch die Interaktion zwischen den Menschen in der Öffentlichkeit.

Dieses Manko wollen Schillig und Holder innerhalb ihrer Disziplin aufgreifen und zusammen mit ihren Studierenden sowie zum Projekt geladenen Gästen ein Bewusstsein für sensuelle Aspekte städtischer Situationen schaffen:

„Ein Anliegen kann auch bedeuten, mit Hilfe einer scharfen Beobachtungsgabe und einem Sinn für das Kuriose Merkwürdiges oder Besonderes hervorzuheben oder sichtbar zu machen“

erklärt Elisabeth Holder hierzu und lädt Studierende und Passanten ein, den öffentlichen Raum mit allen fünf Sinnen zu erleben.

Auf den ersten Blick scheint diese Herausforderung ziemlich trivial, doch bei genauerem Hinsehen ist sie dies aber keineswegs. Wahrnehmung braucht Schulung, ein spezielles Sehen und Erkennen von Symbolen, Codes und Zeichen sowie die Gabe diese aufzunehmen, zu transformieren oder ein Produkt daraus abzuleiten. Es braucht also Anlässe und Methoden, die z.B. vom Konzept des Flaneurs inspiriert sind.

Eine der Stärken des Buches ist die intelligente und effiziente Verwendung einer interdisziplinären Herangehensweise, die ihre Potentiale im Zusammenspiel von Lehrenden und Lernenden entfaltet – wobei nicht immer deutlich ist, wer gerade Lehrender und wer Lernender ist. So haben die Arbeiten der Studierenden, der Verlauf ihrer Forschungen und die Produkte wiederum die Gastautorinnen und -Autoren immer wieder neu inspiriert. Somit wurden also Anlässe zur Kommunikation geschaffen, die anhand der jeweiligen Werke und Produkte in einen konstruktiven künstlerischen Diskurs überführt werden konnten.

Besonders interessant sind die dokumentierten Momente, die durch die gestalterischen Eingriffe der Studierenden entstehen: In der Arbeit „Urban Gardening“ haben die Studentinnen Alina Herzog, Marissa Oeker und Kirsten Schneider graue quadratische Bodenplatten an Stadtbahnhaltestellen in Düsseldorf durch Grasflächen ersetzt. Das Experiment bringt die unterschiedlichen Reaktionen von Kindern und Erwachsenen ans Licht. Kinder haben auf diese visuelle Überraschung spielerisch reagiert, Erwachsene hingegen irritiert. Das Ungewöhnliche wirkt auf Erwachsene stärker und, so die Vermutung, von der Qualität her fast wie eine Bedrohung. Ein solcher „harmloser“ und zugleich „minimaler“ Eingriff zeigt sehr präzise, wie kompliziert es ist, gewohnte Situationen zu brechen und neue Erfahrungen im städtischen Raum zu etablieren, wie auch ein anderes Beispiel zeigt: Durch eine Arbeit von Urs Kusche und Kestutis Urbonas wird der Umgang der Stadtbewohner mit der Sicherheit im öffentlichen Raum getestet. „Feel the Unsafe“ experimentiert mit instabilen Elementen, die im Stadtraum verteilt wurden. Welcher Passant traut es sich auf einen wackeligen Stuhl zu setzen? In eine ähnliche Richtung geht das Experiment „Fern dem Kontext“ von Natalie Grote-Beverborg und Nicole Szklarek. Hierzu wurden Kleidungsstücke an alltäglichen Orten drapiert, um die Anwesenheit von Körpern zu thematisieren. Wie ist eine solche Situation zu bewerten? Was geht hier vor sich? Wie soll ich darauf reagieren?

Die Projekte, so der Eindruck, nähern sich also in der Mehrzahl sehr kritisch dem Thema Öffentlicher Raum und dessen Aneignung durch Interventionen und der Gestaltung von Situationen. Besonders deutlich wird dies in der Arbeit „Freiraum“ mit Hilfe derer Ken Hegemann und Mikkel Kanne über die Aneignung von öffentlichem Raum durch temporäre Architekturen reflektieren. Fragen, die die beiden sich stellen sind u.a. Inwiefern kann man sich die Stadt aneignen? Wie groß ist die Grenze zwischen privat und öffentlich? Ab wann nähert man sich der Illegalität? Bei allen diesen Experimenten geht es zunächst darum, ein sinnliches Erleben dem Raum und der Stadt zu ermöglichen. Hierbei scheint recht schnell ein subversiver Moment auf, da allein durch das Vor-Ort-Sein die Besonderheiten und Mängel der konkreten Orte offenbar werden. Gleiches gilt aber auch für ihre Potentiale. Und hier setzen die Besonderheit und der Apell des Projekts „Schmuck als urbaner Prozess“ an: Wir sollten unsere Umgebung nicht nur durch unsere Augen wahrnehmen, sondern auch durch unseren weiteren Sinne. Von Schillig auf den Punkt gebracht klingt das so:

„Unsere Kontaktflächen zur Welt sind unsere Sinne“

Um diese Herangehensweise zu konkretisieren und zu illustrieren was passiert wenn dies durch eine Gruppe Studierender ausprobiert wird, empfehlen wir die Lektüre des vorliegenden Buches, das zahlreiche interessante und teils sehr humorvolle Experimente bereit hält.

Schillig und Holder haben gemeinsam mit ihren Studierenden die Beziehung zwischen den Körpern und dem städtischen Raum hinterfragt und dies im Kontext des Schmuckdesign. Sie haben sowohl den Begriff des Schmucks hinterfragt aber auch neue Möglichkeiten der Wahrnehmung von und des Eingriffs in urbane Situationen aufgetan. Auf diese Weise, so Schillig, fungiert Schmuck als Vektor, denn Schmuck kann auf diese Weise nicht nur ein „Teil“ von einem Menschen sein, sondern auch eine „Stofflichkeit der Stadt am Körper ausdrücken“. Der Mensch beeinflusst seine Umwelt, wie auch er durch seine Umwelt beeinflusst wird.

Durch ihre Projekte haben die Studierende auf die Stadt, ihre Eigenheiten, Widersprüche und Potentiale aufmerksam gemacht. Genau hier liegt das Potential des urbanen Schmuckes: Er macht das Unscheinbare sichtbar, rückt das Alltägliche ins Bewusstsein und kann sogar Unschönes in Schönes umwandeln. Oder wie Elisabeth Holder es beschreibt: Solche Interventionen können „die Stimmung erhellen“ – eine Tatsache, die in den 496 Seiten des Buches gezeigt und veranschaulicht wird und bei sowie nach der Lektüre individuell hinterfragt werden kann.

Das Buch, so unser abschließendes Urteil, lädt den Leser zu einer Reise an die Grenzen aber auch Schnittbereiche zwischen Urbanistik, Philosophie, Soziologie, Literatur und Design ein. Die im Buch detailliert ausgeführten Überlegungen ermöglichen es dem Denkprozess der Herausgeberinnen sowie der Gastautoren und -Autorinnen zu folgen, was das Buch sehr interessant macht. Darüber hinaus schaffen die Herausgeberinnen eine gute und stringente Verknüpfung von theoretischen Aspekten und persönlichen Meinungen und bieten diese in einem sehr ansprechenden Layout.

Das Buch ist sowohl in einer klaren und gut verständlichen Sprache als auch bilingual verfasst, wodurch es nicht nur für deutschsprachige Rezipienten leicht und mit Vergnügen zu lesen ist. Viele Bilder dokumentierten die Arbeiten, was nicht nur das Verständnis erleichtert, sondern auch gleichzeitig eine Inspirationsquelle für eigene Erkundungen im urbanen Alltag darstellt.

Die einzige Kritik, die wir anbringen möchten ist, dass wir uns gewünscht hätten dem Denkprozess der Studierenden ebenso folgen zu können, wie dem der Herausgebenden bzw. den der Gastautor/-innen. So sind die folgenden Fragen leider offen geblieben: Warum haben die Studierenden sich für diese besondere gestalterische „Lösung“ entschieden? Wie genau hat die Handlung stattgefunden? Zu welchen gedanklichen Ergebnissen sind die Studierenden gekommen? Und wie haben sie ihre Arbeit selbst reflektiert? Das dies bei einem Buch passiert, in dem es auch um eine Dokumentation von studentischen Arbeiten geht, ist schade.

Nichts desto trotz empfehlen wir allen Stadt- und Schmuckbegeisterten die Lektüre und möchten nochmal auf die morgen Abend um 20:15 Uhr stattfindende Buchvorstellung in der Buchhandlung Moritzplatz hinweisen. Alle Infos zu dieser Veranstaltung finden Sie unter diesem Link.

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Schmuck als urbaner Prozess – Künstlerische Handlungen im städtischen Raum
Dokumentation eines Forschungsprojekts

Elisabeth Holder, Gabi Schillig (Hrsg.)
Mit Texten und Gastbeiträgen von: Dr. Susanne Anna, Willi Dorner, Karsten M. Drohsel, Elisabeth Holder, Dr. Barbara Maas, Yuka Oyama, Gabi Schillig, Rennie K. Tang
Text: deutsch | englisch
ca. 500 Seiten mit zahlreichen, meist farbigen Abbildungen
Format 15 x 21 cm. Klappenbroschur
ISBN: 978 3 8030 0784 1
Preis: 35.00 €

Die Rezension wurde von Dorothée Moutiez und Karsten Michael Drohsel verfasst. Die beiden werden auch die Buchvorstellung moderieren. Danke an Ruven Wiegert für das Lektorat