Eine Fernsehwerkstatt in Berlin-Kreuzberg. Als die Stadtforscherin Gülsah Stapel mit dem türkischen Betreiber der Werkstatt ins Gespräch kam, tauschten sie Geschichten zu vergangenen Fernseherlebnissen aus. Das bunte, fiepende Testbild in der Nacht, Lieblingssendungen und wegweisende Nachrichten, die die ganze Familie gemeinsam schaute. Angeregt durch das Thema Fernsehen erinnerten sich beide noch an ganz andere Ereignisse und an Orte aus der Berliner Stadtgeschichte. Stapel erfuhr zum Beispiel, dass die Familie des Besitzers, die vor Jahrzehnten als Gastarbeiter*innen aus der Türkei nach Deutschland gezogen war, an zahlreichen politischen Demonstrationen teilgenommen hatte und welch ein wichtiger Ort der benachbarte Mariannenplatz in der Lebensgeschichte des Fernsehreparateurs spielt.
Dieses Gespräch war die Initialzündung für Gülsah Stapels ganz eigene empirische Forschungsmethode: die Gesprächskomplizenschaften. Im Jahr 2006 hat sie, damals noch Studentin der Stadt- und Regionalplanung an der Technischen Universität Berlin, begonnen, nach einem spezifisch türkischen Erbe als Teil der Berliner Stadtgeschichte zu forschen. Standardisierte wissenschaftliche Interviewverfahren brachten sie dabei aber nicht weiter und sie zweifelte bereits an der Existenz von Erbeerzählungen jenseits der bekannten Stadtgeschichte. Bis ihr – nach dem Gespräch in der Fernsehwerkstatt – klar wurde, dass nur ehrliche Gespräche auf Augenhöhe, Gespräche ohne Rollenzuweisungen wie Interviewerin und Befragte:r, in die jede:r eigene Expertisen und Ideen frei einbringen kann, eine Chance bieten, gemeinsam etwas zu entdecken und zu erforschen. In den Folgejahren arbeitete sie mit zahlreichen Gesprächskompliz:innen zu den Erinnerungsorten türkeistämmiger Berliner:innen, die sie in den Kontext des Rechts auf kulturelles Erbe in der Migrationsgesellschaft stellte.
Am 9. Februar 2023 erschien bei Urbanophil Gülsah Stapels Buch Recht auf Erbe in der Migrationsgesellschaft. Eine Studie an Erinnerungsorten türkeistämmiger Berliner:innen. Das Buch geht weit über Berlin und türkisch konnotierte Erinnerungsorte hinaus. Die spezifischen Geschichten und Orte, von denen Gülsah Stapel erzählt, lassen nicht nur einen ganz neuen Blick auf die Berliner Stadtgeschichte zu, sie stellen auch ganz eindringlich und konkret eine zentrale erinnerungspolitische Frage: Wie wird kulturelles Erbe konstruiert und was muss sich ändern, wenn »WIR« von Migrationsgesellschaft nicht nur reden, sondern diese auch leben? Und umgekehrt, welche Rolle spielen für diesen Weg die Erbekonstruktionen?
Als Vorschau auf das Buch schenkte uns die Autorin einen Soundtrack, den sie selbst zusammengestellt hat. Fehlfarben, Freddy Quinn, DAF, Berkant, Ton Steine Scherben und einige weitere Überraschungen stimmen ein auf eine raumbasierte Reflexion der Migrationsgeschichte in Berlin, die tiefgründig und zugleich ganz nah an den Protagonist:innen – Gülsah Stapels Gesprächskompliz:innen – ist. Wissenschaft, die einer investigativen Kriminalgeschichte gleicht. Oder vielleicht sogar eine ist?
Das Buch ist ab sofort bestellbar und lieferbar. Am 9. Februar feiern wir die Book Release im FHXB-Museum (Friedrichshain-Kreuzberg Museum) mit einer Lesung und einer Diskussion. Näheres zur Book Release und natürlich zum Buch folgen in Kürze hier auf Urbanophil.net und bei @urbanophil_verlag auf Instagram.
Recht auf Erbe in der Migrationsgesellschaft
Eine Studie an Erinnerungsorten türkeistämmiger Berliner:innen
von Gülsah Stapel
Hardcover, Leineneinband
336 Seiten
148 x 220 cm
121 Fotografien und Karten
Satz und Gestaltung: Bureau Punktgrau
ISBN: 978-3982-4959-9-6
Urbanophil 02/2023
36 €
Zum Bestellformular