Das Programm des zweiten Tages unterteilte sich in verschiedene perspektivische Ansätze, unter denen Dynamiken und Potentiale von neuen Medien im realen und digitalen Raum betrachtet wurden. Zur Einführung richtete sich der Fokus in der ersten Session auf Protest und Revolutionen im arabischen Raum (Hannah Wettig), die Raumwirksamkeit der Bildsprache in der ägyptischen Revolution (Rania Gaafar) und soziale Bewegungen in westlichen Ländern (Prof. Dr. em. Dieter Rucht). Unter dem Label „bottom up“ versuchten die Vortragenden zum einen eine Ortsbestimmung der unterschiedlichen Revolutionen und Initiativen der letzten Zeit vorzunehmen sowie deren Bildsprache und Medienwirksamkeit zu untersuchen.

Ein Blick in die Agora der Evangelischen Akademie mit dikussionsfreudigem Publikum.

Die Journalistin Hannah Wettig begann mit einem Vortrag über den Begriff und die Rolle der Zivilgesellschaft im arabischen Raum. Sie äußerte eine gewisse Verwunderung über das scheinbare Existieren einer solchen; zumindest, wenn man einen Maßstab nach westlichen Verständnis anlegt, nach dem bspw. Menschenrechts-, Frauen-, Homosexuellen und Umweltorganisationen und (christliche) Religionsgemeinschaften die Zivilgesellschaft abbilden. Dennoch ist in den letzten ein, zwei Jahren ein stetiger Wandel in der Nutzung und Frequenz des öffentlichen Raums zu beobachten, der in Richtung einer beginnenden Zivilgesellschaftlichkeit gedeutet werden kann. Hiermit sind vor allem die Nutzung von Straßencafés, die aktive Teilnahme von Frauen an der Öffentlichkeit und Sportevents (v.a. Fußballspiele) gemeint, die eine neue Gegenöffentlichkeit zu den Moscheen schafften. Immerhin konnte sich insbesondere innerhalb der gewachsenen Verbindungen unter den Fußballfans der revolutionäre Geist schnell verbreiten und ein aktiver Austausch über die aktuellen Ereignisse erfolgen.

Eine wichtige Erkenntnis aus dem Vortrag war, dass erfolgreicher Widerstand unbedingt real erleb- und besetzbare Räume braucht, in denen Diskurse möglich werden und Austausch stattfinden kann. Diese neuen Räume können dann, ergänzt durch die neuen Medien, quasi aus dem Privaten ins Öffentliche erweitert werden. Die Medienwissenschaftlerin Rania Gaafar der Hochschule für Gestaltung (HFG) Karlsruhe zeigte anhand einiger Beispiele, wie und wo sich beispielsweise in Ägypten, ein solcher medialer Zwischenraum als virtueller Aktionsraum etablierte: “Die Mediatisierung und Medialisierung der ägyptischen Revolution Anfang des Jahres 2011 hat die Raumkoordinaten der ‚öffentlichen Sphäre’ verschoben.” Vor dem Hintergrund dieser medialen und technischen Durchdringung des öffentlichen Raumes, diskutierte sie “die Bedingungen der (Handlungs-)Möglichkeit einer digitalen globalen ‚Gegenkultur’ am Beispiel der sich noch im Prozess befindlichen ägyptischen ‚Revolution’ im materialisierten Raum des Digitalen” wo sie die Etablierung “eines medialen Zwischenraums in zeiträumlicher Virtualität” verortet. Den Beleg führte sie über die Darstellung der nahezu gleichzeitigen Initiierung, der digitalen Erfahrbarkeit und analogen Umsetzung von raumzeitlichen (urbanen) Ereignissen (der Sturz Mubaraks am 11. Februar 2011 wäre ein solches Beispiel) durch welche “die porösen Grenzen zwischen virtueller Existenz und realer Lebenswelt” sichtbar wurden. Auch sie schloss sich dadurch der Meinung an, dass das Internet und die sozialen Netzwerke einen eigenen Raum generieren, welcher zwar Auswirkungen im realen Raum hat, also ein Teil von diesem wird, ihn aber nicht ersetzen kann. Sie vertrat darüber hinaus in einer späteren Diskussion die These, dass die Revolution früher oder später auch ohne die Präsenz der sozialen Netzwerke gekommen wäre, da die Zeit dafür gekommen war.

Einen anderen Blick eröffnete der Soziologe Prof. Dr. em. Rucht vom Berliner WZB, der über die notwendigen und hinreichenden Bedingungen von Protesten referierte. Unzufriedenheit alleine, so Rucht, übersetzt sich nicht direkt in Protest oder eine Protesthandlung. Um Protest zu generieren „braucht es die Wahrnehmung, dass man nicht alleine von dem jeweiligen Problem betroffen ist.“ Hierzu benötigt es Multiplikatoren (Personen und Gruppen), die zum Meinungen bündeln und zum Protest aufrufen, wozu z.B. soziale Netze prädestiniert sind, aber auch entsprechende Gelegenheitsfenster (wie Wahlkämpfe) oder wie später noch im Vortrag von Slobodan Djinovic Erwähnung findet, eine Fußballweltmeisterschaft. Gleichzeitig formulierte er im Rekurs auf die von Wettig angestoßene Diskussion die Notwendigkeit einer normativen Definition des Begriffs Zivilgesellschaft, die er selbst als den Zwischenraum zwischen den Polen Familie, Wirtschaft und Staat beschrieb. Er führte seinen Beleg gegen die angebotene nichtnormative Definition mit der Begründung, dass ohne diese unter Zivilgesellschaft alles verstanden werden könnte, wo wie auch immer gearteter Diskurs stattfindet, also auch innerhalb einer rechtslastigen Kameradschaft.

Streng nach den Präsentationsrichtlinien für Lehrpersonal: die Thesenübersicht von Prof. Dr. em. Rucht

Auch wenn, wie schon der Titel der Tagung vermittelt, vielfach das Gefühl vorherrscht, dass wir in einer Hochphase des Protests leben, so zeigte er, dass in langjähriger Betrachtung zu früheren Zeiten nicht unbedingt ein großer Unterschied besteht. Damit zeigt, sich dass die Besonderheit der neuen Revolutionen (neben anderen Faktoren) auch in der Art und Weise im Umgang mit den neuen Medien liegt. Rucht zeigt hierbei einen kritischen Blick auf neue Medien, die zwar eine breitere Kommunikation und horizontale Selbstorganisation ermöglichen, wie er einräumt. Gleichzeitig bezweifelt er, dass sich hierdurch neue Leute gewinnen lassen, da er der „direkten Kommunikation“ eine wichtigere Bedeutung zumisst und damit ein roll-back zu klassischen Formen des Protests erwartet. Was Anne Roth zu der Feststellung veranlasste: “Auch Dieter Rucht sitzt offenbar dem Missverständnis auf, Netzprotest hätte nichts mit auf-die-Straße-gehen zu tun.”

Als Zwischenfazit des Themenblocks kann festgehalten werden, dass das Netz verschiedenen Initiativen Raum eröffnet, um Themen zu lancieren und Energien aus unterschiedlichen Richtungen zusammenzuführen. Relative Einigkeit bestand darüber, dass die Revolution zwar nicht wegen u.a. Facebook stattgefunden hat, aber es eine große Unzufriedenheit gab, die ein Medium brauchte, mittels dessen die Menschen ihren Unmut formulieren und sich die Massen mobilisieren konnten. Es bildeten sich „Akteurs-Netzwerke” die sich vom “vom digitalen zum realen Raum” entwickelten und Schnittstellen, an denen sich diese beiden Räume überlagerten – wenn man so will, dem Zwischenraum in dem Privatheit im öffentlichen und Öffentlichkeit im privaten Raum stattfindet. Siehe hierzu auch den Verweis Gaafars auf den Begriff des Walkman Effekts von Shuhei Hosokawa.