von Sebastian Strombach

Modernste Architektur kombiniert mit rassistischen Inhalt – Dan McCarthy (1898): „The American Sky-Scraper is a Modern Tower of Babel“ Quelle: Wikipedia, © Peter Maresca/Sunday Press

Vermutlich haben die meisten Menschen noch nie von einer Comic-Forschung gehört. Und doch gibt es sie, die wissenschaftliche Behandlung des Mediums Comic und zwar bereits seit Jahrzehnten. Der berühmteste Forscher dürfte kein geringerer gewesen sein als Umberto Eco, der sich ausführlich mit Comics auseinandergesetzt hat. Und wenn ich neben dem Wissenschaftler an den Autor Eco denke, fallen mir sofort dessen labyrinthische Romane ein – wobei wir beim Thema wären. 

Denn das „Labyrinth“ ist einerseits eine Metapher für etwas unübersichtliches, oder, wie ich neuerdings weiß, ein “zuviel an Ordnung“ in literarischen Texten, aber ebenso auch ein realer Raum in Architektur und Städtebau. Die Darstellung solcher „labyrinthischer“ Stadtstrukturen zeichnet ganz besonders die legendären Comics von Marc-Antoine Mathieu aus, der gleich Topos zweier Vorträge bei der Düsseldorfer Tagung SeitenArchitekturen war, von der ich hier berichten möchte.

Auf der Tagung lernte ich, dass labyrinthisch auch dann sein kann, wenn alle möglichen Verweise und Zitate zu anderen Werken führen, fern der Logik eines Weges oder Erzählstranges. Kein Wunder also, dass das Topos „Labyrinth“ besonders in den postmodernen 1980ern „in“ war, wo allenthalben mit Zitaten auf Werke anderer verwiesen wurde. Diese labyrinthische Herangehensweise der plötzlichen Störung, des „Richtungswechsel“ im Orientierungssystem von Roman, Stadt oder eben Comic radikalisiert Mathieu, indem er echte Löcher in seine Bücher schnitt, durch die seine Protagonisten, wie auch die Leser*innen auf andere Seiten plumpsten, wo auf einmal andere Geschichten, andere Orte erzählt wurden.

Aber ist das „Labyrinthische“ nicht eigentlich auch ein Wesensmerkmal des Mediums Comics? Ständig muss die Leser*in sich überlegen, ob sieer gerade den Comic liest oder betrachtet, denn Comics sind eben meistens beides – Text und Bild. Und da sind wir bei der Entstehungsgeschichte des Comic, besser gesagt den Zeitungsstrips des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Denn in nordamerikanischen Zeitungen – lokalisiert in den aufstrebenden Großstädten wie New York und Chicago – erblickte der Comic damals das Licht der Welt. Betrachtet mensch Fotografien (oder besser Zeichnungen) dieser Zeit, dann fällt sofort das ungeheure Gewusel auf dem Grund der Straßenschluchten auf und das sinnesverwirrende, alle Fassaden überziehende Konglomerat aus Ornamenten und Reklametexten. Wer jetzt ein Bild von Heinrich Zille vor Augen hat liegt ganz auf der Linie des Autors, denn genau solche „Wimmelbilder“ waren das Frühstadium des Comics, angefangen mit der Serie „Yellow Kid“ gezeichnet von den berühmten Richard F. Outcault. Hier verschmolzen erstmals, ausgehend von urbanen Erfahrungen, Schrift und Bild: und die Sprechblase ward geboren. Kinder, heile Welt? Eben nicht! Outcaults zeichnerischer Kontrahent Dan McCarthy zeigt uns im Jahre 1898 das noch unverkleidete Stahlskelett des New Yorker Park Row Buildings (vgl. Bild oben). Hier im „Modern Tower of Babel“ bauen Einwanderer aus der ganzen Welt am höchsten Gebäude der Welt und erleiden eine gigantische Anzahl von Missgeschicken wie sie nur eine Baustelle bieten kann. Doch der Witz ist ein vergifteter: die Bauleute verkommen zu ein Tableau von rassistischen Stereotypen und einer Aneinanderreihung tumber „Untermenschen“, über die sich derdie weisse Zeitungsleser*in herablassend lustig machen konnte.

Doch was passiert, wenn Architekt*innen selber Comics machen? Mélanie van der Hoorn erforschte den Zusammenhang von realer Architektur und Comics in ihrem fulminanten Buch „Bricks & Balloons“. In ihrem Vortrag führte sie aus, dass manche Architekt*in sich über Comics selbst berühmt machte (z.B. Bjarke Ingels „Yes is More“), oder auch Wettbewerbe gewann bzw. verlor („Kinderkram – werden sie mal erwachsen!“). Comics sind darüber hinaus für die Kritik an Architektur und Städtebau geeignet. Hier lohnt ein Blick in die Planer*innen-Kultur der 1960er und 1970er Jahre, wo Comics auch zum niedrigschwelligen Zugang und zur Einbeziehung der Beplanten herangezogen wurden (z.B. Richard Dietrich Comic „Metaperlach“ zur Münchener Trabantenstadt Perlach von 1969). Auch hier sind die Abgründe nicht weit: so eignen sich Comics natürlich auch als kunterbuntes Marketing-Instrument fragwürdiger Investor*innen-Planungen in Architektur und Städtebau.

Noch lange könnte ich berichten von den Vorträgen und Themen dieses weiten Feldes – über vermeintlich japanische Gartenarchitektur in Mangas, über crossmediale Ausschneidebögen in Cris Wares „Building Stories“, oder über komplett klaustrophobische Innen- und Außenräume in einer Stadt ohne Straßen (Itô Junji).

Aber ich möchte mit einem ganz persönlichen Comic-Tip enden: Richard McGuires „Hier“, der auf dem allersten Vortrag der Tagung behandelt wurde. „Hier“ zeigt auf 300 Seiten immer das gleiche: zwei Wände eines Innenraumes einer nordamerikanischen Wohnung. Das Gleiche? Nein – über drei Milliarden (!) Jahre wird hier ein Ort erzählt, seine Bewohner*innen, seine Welt. Nebeneinander werden Vergangenheit, Gegenwart und die Zukunft aufgerollt, ein multiperspektivisches Patchwork entsteht vor den Leser*innen. Für mich ist dieser Anti-Comic ein Fingerzeig, welch unentdecktes Potential das Medium Comic noch für Raum, Architektur und Stadt bereit hält.

Literaturtipps:
Marc-Antoine Mathieu: „Der Ursprung“.
Mélanie van der Hoorn: „Bricks & Balloons Architecture in Comic-Strip Form“
Cris Ware: „Building Stories“ 
Richard McGuires: „Hier“

Und zuletzt noch der Link zur Podiums-Disskussion, mit der die Tagung schloss.