Abb. Nachbarschaft Samtweberei Krefeld, © Urbane Nachbarschaft Samtweberei gGmbH

Abb. Nachbarschaft Samtweberei Krefeld, © Urbane Nachbarschaft Samtweberei gGmbH

Parteien bewerten das Thema Wohn- und Lebensraum in ihren Wahlprogrammen unterschiedlich
Den Menschen in Deutschland ist ihr Wohn- und Lebensumfeld besonders wichtig. Wie greifen die Parteien, die sich jetzt um den Einzug in den Bundestag bewerben, das Thema auf? Das Netzwerk Immovielien wollte es genau wissen und hat die Wahlprogramme der Parteien analysiert und konkret nachgefragt. Welchen Stellenwert hat für sie eine intakte lokale Infrastruktur? Wie wollen sie Mieten bezahlbar halten und wie die soziale Durchmischung der Quartiere sichern? Welche Rolle spielen gemeinwohlorientierte Investoren in der Stadtentwicklung und wie können diese unterstützt werden? Die Antworten fallen recht unterschiedlich aus.

Der „Deutsche Post Glücksatlas 2016“ belegt, dass vor allem das Wohn- und Lebensumfeld wichtige Einflussfaktoren für Lebensqualität sind. Mietpreise, die lokale Infrastruktur oder die Nachbarschaft müssen stimmen, damit die Deutschen zufrieden sind. Das scheinen die Parteien allerdings nur bedingt zu berücksichtigen. Jörn Luft, Mitarbeiter der Montag Stiftung Urbane Räume, die als Koordinierungsstelle des Netzwerks Immovielien fungiert: „Es fällt auf, dass die Parteien das Thema entweder nicht und wenn ja, dann sehr unterschiedlich als politischen Gestaltungsraum nutzen.“ Während das Thema Wohnraum von allen Parteien aufgegriffen wird, bleibt das Themenfeld Stadtentwicklung eher oberflächlich behandelt. Sucht man hier zum Beispiel nach konkreten Aussagen zu dezentralen Ansätzen, die den Bewohnern eine gewichtigere Rolle bei der Gestaltung ihres Quartiers zugestehen, finden sich im Gegensatz zu SPD, Bündnis90/Die Grünen und der Linken bei CDU, FDP und AfD gar keine Antworten. Je konkreter die Fragestellungen, umso häufiger findet man Leerstellen in den Wahlprogrammen.
Das Netzwerk wollte sich mit den Aussagen in den Wahlprogrammen nicht zufriedengeben und verschickte an alle größeren Parteien zudem einen Fragebogen, mit dessen Antworten man die einzelnen Positionen zu verdeutlichen hoffte. CDU, AfD, Freie Wähler und Piraten haben darauf entweder gar nicht reagiert oder nicht auf die konkreten Fragen geantwortet. Andere Parteien machten sich mehr Arbeit und verdeutlichten, dass sie dem Thema eine Relevanz geben. In der Gesamtbetrachtung lassen sich so signifikante Unterschiede in den Positionen der Parteien feststellen.

Der Markt als Regulierungsfaktor
Die CDU setzt sich zusammen mit dem Koalitionspartner SPD dafür ein, dass der Bund mit dem Verkauf seiner Grundstücke an Städte und Gemeinden zu Preisen unterhalb des Marktniveaus Spielraum für nicht renditeorientierte Initiativen schaffen sollte. Darüber hinaus legen die Christdemokraten ihren Fokus vor allem auf die Förderung der ländlichen Regionen. Um die Strukturschwäche solcher Gebiete zu kompensieren, soll das Potenzial nachbarschaftlicher Strukturen gestärkt und zur Daseinsvorsorge genutzt werden. Ansonsten setzt die CDU beim Grunderwerb auf Familienförderung. So sollen zum Beispiel Familien mit Kindern nach einem Immo-bilienkauf bei der Grunderwerbsteuer entlastet werden. Auf ein zusammenhängendes Konzept verzichtet die CDU in diesem Themenfeld.
Die Unterschiede in den Programmen beruhen nicht zuletzt auf politisch-ideologischen Unterschieden. Die FDP setzt auf weniger Vorschriften für die Immobilienwirtschaft und vertraut auch hier auf die Regeln des freien Marktes. Zum Beispiel in Fragen der Flächenbereitstellung für kostengünstigen Wohnraum: „Die Preise gerade in Ballungsräumen werden vom Markt bestimmt, der derzeit aufgrund der Knappheit ein Verkäufer-Markt ist. Hier ist nur ein ausreichendes Angebot in der Lage, einen Verkäufer- zum Käufer-Markt zu wandeln. In erster Linie sind hier die Städte und Gemeinden in der Pflicht, durch entsprechende Flächenausweisungen ausreichend Bauland zur Verfügung zu stellen. Aber gerade hier gilt, dass künstlich festgesetzte gedämpfte Preise nur sehr kurzfristige Effekte haben.“ Stadtentwicklung findet hier konsequent im Kontext marktwirtschaftlicher Parameter statt.

Investition in Beton und Menschen
Die SPD gibt dem Thema deutlich mehr Raum als CDU und FDP. Sie plädiert für eine stärkere Förderung von benachteiligten Stadtteilen. Zivilgesellschaftliches Engagement und Bürgerbeteiligung sind nach Ansicht der SPD entscheidende Voraussetzungen für den Erfolg von Städtebauförderung. Dabei spielen nach ihrer Ansicht Schulen und Vereine als Partner vor Ort eine wichtige Rolle. Gemeinwohlorientierte, bürgerschaftliche Initiativen hat die SPD hier weniger im Blick. Allerdings sollen Überlegungen zur Überarbeitung der Gemeinnützigkeit oder zur Stärkung kleinerer Genossenschaften diesen in Zukunft die Arbeit erleichtern.
Nicht zuletzt beruft sich die SPD auf bereits Geleistetes: „Auf Initiative der SPD wurden nach 2013 erstmals wieder die Mittel für alle Programme der Städtebauförderung massiv erhöht. Mit dem neuen Bundesprogramm Investitionspakt Soziale Integration im Quartier können erstmals auch Personalstellen finanziert werden. Generell haben wir es geschafft, dass neben der Förderung von Beton die soziale Frage in den Fokus gerückt wurde.“ Die Initiierung eines Kommunalinvestitionsförderungsfonds in Höhe von sieben Milliarden Euro verbucht die SPD auf ihrer Habenseite. „Er kommt dem Zusammenleben in den Nachbarschaften zugute.“
Bündnis 90/Die Grünen stellen explizit einen Bezug zwischen der Stärkung gemischter Quartiere und städtebaulichen Zielen her: Kurze Wege, kleinteiliges Gewerbe, mehr Grün in der Stadt und mehr Treffpunkte des sozialen Lebens entspre-chen dem Ideal einer nutzungsgemischten Stadt. „Gemeinwohlorientierte Träger“ sehen die Grünen in diesem Zusammenhang als Empfänger von Liegenschaften, die Kommunen vergünstigt vom Bund erhalten. Hier sind sie mit CDU und SPD gleichauf.
Im Gegensatz zu den beiden genannten Parteien sehen die Grünen Handlungsbedarf bei den Genossenschaften: „Die kürzlich durchgeführte Reform des Genossenschaftsrechts geht uns nicht weit genug. Wir wollen diese Rechtsform gerade für kleine und mittlere Unternehmungen attraktiver machen. Die staatliche Gründungsförderung für Genossenschaften ist im Vergleich zu anderen Rechtsformen derzeit völlig unzureichend.“ Aber auch, was gegen steigende Mieten, Entmischung von Stadtteilen und zunehmenden Flächenverbrauch getan werden kann, wird in diesem Programm weitaus konkreter als bei anderen Parteien ausgeführt. Dabei sehen die Grünen die eingeschränkte Handlungsfähigkeit von klammen Kommunen als zentrales Problem. Ihr Lösungsansatz: Die Kommunen sollen von Sozialausgaben und durch einen „Altschuldentilgungsfonds“ von erdrückenden Zinszahlungen entlastet werden. Ihre Forderung: „Eine Million dauerhaft günstige Wohnungen“ und „ein Mietrecht ohne Schlupflöcher“.

„250.000 neue Sozialwohnungen jährlich“
Die Linke stellt den weitreichendsten Forderungskatalog auf: 250.000 neue Sozialwohnungen jährlich und fünf Milliarden Euro für deren Bau. Mehr Wohnungen in öffentlicher Hand und ein nicht profitorientierter Wohnungsmarktsektor, der durch steuerliche Vergünstigungen, Zuschüsse und bevorzugten Zugang zum Boden massiv gefördert werden soll – so sieht nach Meinung der Linken sozial gerechte Wohnungspolitik aus. Mit Quotenmodellen soll die soziale Mischung von Stadtteilen gesichert werden. Die „Mitsprache bei Stadtumbauprojekten, innerstädtischen Nachverdichtungen und bei großen Neubauvorhaben“ soll ausgeweitet werden. „Wir Linken wollen die Privatisierung von Immobilien der öffentlichen Hand stoppen. Liegenschaften der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben werden zur Schaffung und Sicherung sozialen Wohnraums, zur Bereitstellung von Infrastruktur, zu Zwecken der öffentlichen Daseinsfürsorge und zu sonstigen Zwecken des Gemeinwohls benötigt.“
Städtebauförderprogramme sollen nach Ansicht der Linken mit mehr Geld ausgestattet werden. Die Verbesserung des Wohnumfeldes soll künftig auch ohne kommunalen Anteil gefördert werden. Gemeinwohlorientierte Initiativen könnten von einem „niedrigschwelligen“ Zugang zu Fördergeldern für den Städtebau profitieren. Die meisten Vorschläge werden ohne vertiefende Konkretisierung aufgezählt, auch die Frage der Gegenfinanzierung bleibt weitgehend offen. Den Kreis der berücksichtigten Akteure fasst diese Partei aber am weitesten.
Jörn Luft, Montag Stiftung Urbane Räume: „Das Spektrum der Stellungsnahmen ist breit: Die Positionen reichen von völliger Nichtbeachtung des Themas über fundierte, exemplarische Schwerpunktsetzungen bis hin zu einem Forderungskatalog, der möglichst alle Themen aufgreift. Angesichts des Stellenwerts, den das Thema in
der Öffentlichkeit hat, gilt es kritisch zu bleiben und die Koalitionsverhandlungen und den Transfer in den politischen Alltag genau zu verfolgen.“

Wer mit Blick auf die Bundestagswahl im Detail wissen möchte, welche Parteien Immovielien und eine gemeinwohlorientierte Stadt- und Immobilienentwicklung unterstützen, kann seit dem 30.8. beim „Wahlcheck Kooperative Stadt“ mitmachen unter www.netzwerk-immovielien.de/wahlcheck.
Dem Netzwerk Immovielien gehören inzwischen 63 aktive Teilnehmer an. Neben zahlreichen Initiativen, die sich in Fragen der Stadt- und Quartiersentwicklung aktiv engagieren, sind dort auch Organisationen wie der Deutsche Städtetag, die IBA Thüringen, die Montag Stiftung Urbane Räume, der Deutschen Städte- und Gemeindebund, StadtBauKultur NRW oder die GLS Bank aktiv. Gemeinsam wollen sie die Idee einer Kooperativen Stadtentwicklung forcieren.
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Im Februar 2017 gründete sich das „Netzwerk Immovielien“, das von 63 Unterstützern getragen wird. Dazu gehören neben Unternehmen, Verbänden, Stiftungen, Ministerien und anderen Organisationen auch lokale Initiativen, die sich für eine „kooperative Stadtentwicklung“ einsetzen und dabei ihren Fokus auf gemeinwohlorientierte Immobilien („Immovielien“) setzen. Weitere Informationen zum Netzwerk findet man unter: www.netzwerk-immovielien.de, eine Sammlung von Immovielien-Projekten kann man einsehen unter: www.neue-nachbarschaft.de/immovielien.

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Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Gastbeitrag des Netzwerk Immovielien, Ansprechpartner ist Jörn Luft. Der Text wurde im Original übernommen.