Moderne Kirchen in Frankfurts Speckgürtel

Ein Gastbeitrag von Karin Berkemann
„Eine typische protestantische Kirche“ – so wirbt das Freilichtmuseum Hessenpark für die barocke „Kirche aus Kohlgrund“. Bis 1971 stand sie in eben jenem Dorf, das im selben Jahr nach Bad Arolsen eingemeindet wurde. Der frisch gebackene Stadtteil erhielt eine neue Betonkirche, kein Einzelfall in diesen Jahren in Nord- wie in Südhessen. Die Fachwerkkirche von Kohlgrund bekam im Freilichtmuseum eine zweite Chance. Den barocken Altaraufbau aber behielt man vor Ort unter dem modernen Kirchendach und zeigt ihn heute stolz den Touristen.Quelle: Copyright Förderkreis Alte Kirchen Marburg e. V.

„Eine typische protestantische Kirche“ – so wirbt das Freilichtmuseum Hessenpark für die barocke „Kirche aus Kohlgrund“. Bis 1971 stand sie in eben jenem Dorf, das im selben Jahr nach Bad Arolsen eingemeindet wurde. Der frisch gebackene Stadtteil erhielt eine neue Betonkirche, kein Einzelfall in diesen Jahren in Nord- wie in Südhessen. Die Fachwerkkirche von Kohlgrund bekam im Freilichtmuseum eine zweite Chance. Den barocken Altaraufbau aber behielt man vor Ort unter dem modernen Kirchendach und zeigt ihn heute stolz den Touristen.

Es ist etwas Merkwürdiges mit der Stadt: Wer drinnen ist, will möglichst bald aufs Land (Marmelade kochen/Schafe züchten/Yoga lehren). Wer draußen ist, will unbedingt mit der Stadt gleichziehen (Marmelade kaufen/Balkonkatzen halten/Tango lernen). Von diesem Zwiespalt sind auch die Kirchengemeinden nicht frei, die sich im Speckgürtel größerer Städte wie Frankfurt zu behaupten suchen. Als es die wirtschaftswunderlichen Jahrzehnte nach dem Krieg möglich machten, wurde daher vielerorts mit einem neuen Gemeindehaus „aufgerüstet“. Und wo es irgend finanzierbar schien, sollte dann noch ein „Stararchitekt“ mit einer extravaganten Betonkirche ein urbanes Zeichen setzen.

„Wenn es gilt zu bauen, wird modern gebaut“

Schon vor dem Zweiten Weltkrieg streckte man sich bei vielen Bauprojekten im städtischen Umland nach der nächstliegenden Metropole. In Bischofsheim, einem zwischen Frankfurt und Mainz aufstrebenden Eisenbahnerort, wagte eine Gemeinde 1926 auf kleinem Baugrund den großen Wurf. Der Architekt Dominikus Böhm hüllte sein Frühwerk nach außen in vertrauten Backstein, um innen provokant Parabelbögen in nacktem Beton zu zeigen. Eine Tageszeitung (im Bildarchiv „Foto Marburg“ hat sich nur der Artikel, nicht dessen genaue Quellenangabe erhalten) titelte zur Weihe der katholischen Christkönigkirche: „Das Dorf schläft nicht!“ Die Kirchenoberen waren zunächst zögerlich. Erst als der spätere Papst, der römische Nuntius Eugenio Pacelli, den Bau besuchte und guthieß, verstummten die Kritiker. Schließlich, so besagter Zeitungsbericht: „Wenn es gilt zu bauen, wird modern gebaut.“

„Ein mutiger Dorfpfarrer in der Diaspora und ein ehrgeiziger Architekt hatten in nur vier Monaten eine revolutionäre Kirche gebaut, eine kleine, jedoch groß gedachte stolze Kirche auf der Wohnhausparzelle, mit Wucht und Schwung à la Gaudì und kathedraler Würde“ – so der damalige stellvertretende Direktor des Deutschen Architekturmuseums Wolfgang Voigt 2005 über die Christkö-nigkirche (Dominikus Böhm, 1926) im hessischen Bischofsheim Quelle: privat

„Ein mutiger Dorfpfarrer in der Diaspora und ein ehrgeiziger Architekt hatten in nur vier Monaten eine revolutionäre Kirche gebaut, eine kleine, jedoch groß gedachte stolze Kirche auf der Wohnhausparzelle, mit Wucht und Schwung à la Gaudì und kathedraler Würde“ – so der damalige stellvertretende Direktor des Deutschen Architekturmuseums Wolfgang Voigt 2005 über die Christkönigkirche (Dominikus Böhm, 1926) im hessischen Bischofsheim

Mit eben jener Moderne avancierte Dominikus Böhm in jenen Monaten zum Gesicht einer reformwilligen katholischen Kirche. In Offenbach, wo er schon in den 1910er Jahren lehrte und arbeitete, durfte er sich nur im „Kleinen“ (z. B. 1920 mit der Notkirche St. Josef) verwirklichen. Auch im nahen Frankfurt blieben Dominikus Böhm, den es 1926 nach Köln zog, zeitlebens Prestigeprojekte verwehrt. Erst sein Sohn Gottfried Böhm hinterließ mit St. Ignatius am Rand der Frankfurter Innenstadt 1964 betonplastische Spuren. Ähnlich erging es Otto Bartning 1928 in Niederursel, dem erst 1910 zu Frankfurt geschlagenen Fachwerkdorf. Sein parabelförmiger Grundrissentwurf für das Upgrade der dortigen historischen evangelischen Kirche wurde abgelehnt. Nach dem Krieg kam Bartning 1949 im fast benachbarten Stadtteil Bonames mit seiner seriellen Notkirche zum Zug, dafür einmalig mit dem reinen „Typ A“ mit dem spektakulär gebauchten Dach.

 

Frankfurt-niederursel_g-adolf-kirche_bild_gaki64_cc_by_3-0Quelle: Gaki64, CC BY SA: 3.0

„Nicht in den Mitteln soll sich die Kirche vom Profanbau unterscheiden, sondern in der geistigen Haltung, in dem lebendigen Ausdruck des darin enthaltenen Geschehens“ – so Martin Elsaesser, der sich in Frankfurt-Niederursel mit seiner burghaften Kirche auf achteckigem Grundriss 1928 gegen die Konkurrenzentwurf von Otto Bartning durchgesetzt hatte.

„Dass es als Experiment angesehen werden muss“

Auch Rudolf Schwarz beklagte 1952, er dürfe in Frankfurt, obwohl er hier ein „Zweitbüro“ unterhielt, nie wirklich groß bauen. Sein 1927 gemeinsam mit Dominikus Böhm gestalteter Wettbewerbsentwurf für die Frauenfriedenkirche wurde nicht umgesetzt. Nach 1945 waren Schwarz in der Händlerstadt dann doch zwei Großprojekte vergönnt: die Mitarbeit am Wiederaufbau der Paulskirche (1948) und der Neubau von St. Michael (1954). Bei Letzterer war die mutig geschwungene Form von den Auftraggebern, den liturgisch bewegten Oratorianern, ausdrücklich erwünscht. Die Frankfurter hingegen reagierten skeptisch. Sogar Hermann Mäckler, der mit dem reformorientierten Kirchenbau bestens vernetzt war, unterzeichnete im Architektenbeirat der Stadt 1953 eine kritische Stellungnahme zu den Schwarz-Entwürfen: „Das Bauwerk hat eine derart eigenwillige Gestaltung, dass es als Experiment angesehen werden muss, dessen endgültige Wirkung abzuwarten ist.“ Die meisten katholischen Aufträge dieser Jahre blieben in der Stadt, gingen an Hermann Mäckler mit seinem Büropartner Alois Giefer.

Quelle: privat

„Sie wissen, wie sehr ich von Ihrem Genie gefangen genommen bin und wie sehr ich an St. Michael, Ihrem vielleicht doch – bisher – schönstem Werk hänge“ – so Pfarrer Alfons Kirchgässner, Bauherr der 1954 geweihten Kirche (heute Zentrum für Trauerseelsorge), an Rudolf Schwarz.

Es sollte wieder ein Schwarz-Mitarbeiter sein, der in Frankfurt ein modernes Zeichen setzte. Karl Wimmenauer ergänzte nicht nur St. Michael um einen Campanile (1962), er verwirklichte auch drei Kirchen unter eigenem Namen – eine von ihnen die evangelische Friedenskirche (1965) im nördlichen Weichgebiet der Stadt. Das Dorf Harheim wurde zwar erst 1972 eingemeindet, doch wurde bereits zur Planungszeit der Kirche laut geäußert: Wir müssen baulich gegen die nahe Metropole auftrumpfen! Solch urbane Sehnsüchte beantwortete Wimmenauer in unaufgeregter Klarheit mit einem doppelstöckigen Kirchenkubus. In Bad Vilbel konnte man mit Olaf Andreas Gulbransson einen architektonischen Hoffnungsträger gewinnen, der die evangelische Christuskirche zeichenhaft aus einem achteckigen Grundriss zur sternförmigen „Kuppel“ entfaltete. Dass noch vor der Einweihung im Oktober 1962 zuerst Gulbransson, dann der ausführende Architekt Rolf Vollhard starben, ist eine andere Geschichte.

„Bau und Raum der neuen Friedenskirche in Harheim gehören in Plan und Ausführung zu den unaufdringlichen und, wie ich hoffe, vielleicht deshalb eindringlichen Kirchenbauten“ – so der Architekt Karl Wimmenauer 1965 zur Weihe seines Werks am Frankfurter Stadtrand Quelle: privat

„Bau und Raum der neuen Friedenskirche in Harheim gehören in Plan und Ausführung zu den unaufdringlichen und, wie ich hoffe, vielleicht deshalb eindringlichen Kirchenbauten“ – so der Architekt Karl Wimmenauer 1965 zur Weihe seines Werks am Frankfurter Stadtrand

Geht nach Hause und macht die Revolution

Als nach den „goldenen Jahren“ des Kirchbaus um 1970 die Wende zum turmlosen Gemeindezentrum kam, traf sie Frankfurt zeitverzögert. Während die Studenten bereits 1968 auf den Straßen für den inhaftierten Rudi Dutschke demonstrierten (er rief seinen Unterstützern zu: „Geht nach Hause und macht die Revolution“), bauten die beiden großen Konfessionen trotzig weiter Kirchen mit Turm. Wieder war es eine Minderheit, in diesem Fall die Deutsch-Reformierte Gemeinde, die sich das progressivste Zentrum Frankfurts bauen ließ. In der Nordweststadt gestalteten die Planer der modernen „Mustersiedlung“ – Walter Schwagenscheidt und Tassilo Sittmann – 1970 einen klaren multifunktionalen Kubus ohne Turm und Schnickschnak. Acht Jahre später sollte Sittmann alleine diesen Ansatz im nahen Kronberg mit der Markuskirche noch einmal fulminant in die Postmoderne überführen.

„Hier können Sie schon im Sommer 2006 auf Ihrer eigenen Terrasse sitzen“ – so verhieß viele Jahre ein Werbeschild vor dem geschlossenen Evangelische-Reformierten Gemeindezentrum in der Frankfurter Nordweststadt (1970, Walter Schwagenscheidt/Tassilo Sittmann). Vor dem weiter verfallenden Baudenkmal wird heute, auch schon eine geraume Zeit, die Umgestaltung zum Stadtteil-zentrum angekündigt Quelle: privat

„Hier können Sie schon im Sommer 2006 auf Ihrer eigenen Terrasse sitzen“ – so verhieß viele Jahre ein Werbeschild vor dem geschlossenen Evangelische-Reformierten Gemeindezentrum in der Frankfurter Nordweststadt (1970, Walter Schwagenscheidt/Tassilo Sittmann). Vor dem weiter verfallenden Baudenkmal wird heute, auch schon eine geraume Zeit, die Umgestaltung zum Stadtteil-zentrum angekündigt

So ist es offensichtlich auch mit den Kirchen eine merkwürdige Sache. Eine Großstadt wie Frankfurt, war sich selbst genug: Bis in die mittleren 1960er Jahre hatte man hier die Claims abgesteckt, bauten einige wenige lokale Architekten in vertrauter Qualität. Fast hat man das Gefühl, dass bei den beiden großen Konfessionen („Keine Experimente!“) künstlerische Spitzen unerwünscht waren. Die baulichen Wagnisse erlaubte man sich an den Stadträndern (Platz war ja genug) und in den kleinen Gemeinschaften (was hatte man schon zu verlieren). In der Regel blieb man hier solide Provinz. Doch wenn die Stunde günstig war, griff manch urban gesinnter Pfarrer mit einem weitherzigen Architekten nach den Sternen – und näherte sich ihnen in einigen Glücksfällen sogar.

Literatur (in Auswahl)

  • Fleitner, Michael u. a. (Bearb.), Schauplätze. Frankfurt in den 50er Jahren, Frankfurt am Main 2016
  • Spitzbart, Elisabeth/Schilling, Jörg, Martin Elsaesser. Kirchenbauten, Pfarr- und Gemeindehäuser, Wasmuth-Verlag, Tübingen/Berlin 2014
  • Berkemann, Karin, Nachkriegskirchen in Frankfurt am Main (1945-76) (Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland; Kulturdenkmäler in Hessen), Stuttgart 2013 [zugl. Diss., Neuendettelsau, 2012]
  • Ludwig, Matthias/Mawick, Reinhard (Hg.), Gottes neue Häuser. Kirchenbau des 21. Jahrhunderts in Deutschland, Frankfurt am Main 2007
  • Voigt, Wolfgang (Hg.), Gottfried Böhm, Katalog, Ausstellung “Felsen aus Beton und Glas. Die Architektur von Gottfried Böhm”, 26. August bis 5. November 2006, Deutsches Architekturmuseum Frankfurt am Main, Köln 2006
  • Pehnt, Wolfgang/Strohl, Hilde (Hg.), Rudolf Schwarz. 1897-1961. Architekt einer anderen Moderne, Katalog, Museum für Angewandte Kunst, Köln, 16. Mai bis 3. August1997 u. a, Köln 1997
  • Poscharsky, Peter, Die Kirchen von Olaf Andreas Gulbransson, München 1966

Bis zum 12. März 2017 ist in Mainz die Ausstellung „Auf ewig. Moderne Kirchen im Bistum Mainz“ (mit Fotografien von Marcel Schawe) zu sehen, die – im Auftrag der „Straße der Moderne“, in Zusammenarbeit mit dem Dommuseum Mainz – von Karin Berkemann kuratiert wurde.

Zur Autorin

Dr. Karin Berkemann, * 1972, Diplom-Theologin, Kunsthistorikerin M. A., Architekt in der Denkmalpflege (Fortbildung), seit 2002 freie Kirchbauprojekte, 2008-10 wiss. Volontärin/Angestellte beim Landesamt für Denkmalpflege Hessen, 2013-16 Kustodin des Gustaf-Dalman-Instituts Greifswald, seit 2016 Lehrstuhlvertretung „Jüdische Literatur und Kultur“ an der Universität Greifswald, Redakteurin des Online-Projekts „Straße der Moderne“, Geschäftsführerin des Online-Magazins „moderneREGIONAL“ sowie freie Autorin und Bauforscherin.