utopias and realismQuelle: http://transmodern.eu/2016/04/15/utopias-and-realities-final-program-of-the-berlin-conference/

Das Collegium Hungaricum Berlin organisierte mit dem Forum Translations of Modernism am 28. und 29. April die internationale Konferenz „Utopias and Realities: Socialist Modernism“. Unsere Gastautorin Katharina Sebold war dabei und von der hohen Qualität der Beiträge und dem Neuheitswert der Informationen begeistert. Ihren Tagungsbericht möchten wir daher mit urbanophilen Lesern teilen.

Utopias and Realities: Socialist Modernism. Ein Tagungsbericht von Katharina Sebold

Das Programm der Tagung beinhaltete 17 Vorträge, 9 Filme, eine am Donnerstag Abend eröffnete Kunstausstellung zu einem Workshop in Budapest und zwei einmalige thematische Sonderführungen in der Berlinischen Galerie durch die Ausstellungen “Visionäre der Moderne” und zu den Fotocollagen von Dieter Urbach. Das relativ niedrige Wissenschaftler_innenalter – Großteil der Teilnehmer_innen war um die 30 Jahre alt – spiegelte sich in den teils unkonventionellen Präsentationen und in einer angenehm entspannten, aber dennoch diskussionsfreudigen Stimmung nach den Vorträgen wider. Das Spektrum der Forschungsgegenstände reichte nicht nur geografisch weit – Deutschland, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Mazedonien und Schalenbauten auf der ganzen Welt –, auch inhaltlich reichte das Maßstab von einzelnen Bauten und Ensembles als Statements über generelle Stilfragen und städtebauliche Überlegungen. Auch die Darstellungen der einzelnen Forschungsprojekte waren multiperspektivisch. Der Fokus lag bei drei Vorträgen auf den Personen und ihren Netzwerken bzw. Verknüpfungen zwischen dem Osten und Westen. Die Mehrheit stellte jedoch das Gebaute als Indikator politischer Zielsetzungen, gesellschaftlicher Ideale, des ästhetischen Zeitgeists, der Möglichkeiten und Innovationen in Bautechnologien oder untersuchte den Bauprozess im Informellen als nonkonformistischen, selbstautorisierten Protest. Die Präsentationen und die daran anknüpfenden Diskussionen betrafen denn auch in einer bemerkenswerten Vielschichtigkeit und Vergleichsarbeit die ästhetischen Konzepte im Rahmen zeitgenössischer politisch-ideologischer Argumentationen und lebensphilosophischer Auffassungen der Zeit. Einen großen Raum nahmen auch die Fragen nach dem gegenwärtigen immateriellen und materiellen Denkmalschutz in der Nach- und Umnutzung, erhaltender Pflege, Neugestaltung, politisch motivierter Geschichtsarbeit, dem Vergessen bis zum Abriss ein.

Aus dieser thematischen Überfülle habe ich mich, geleitet durch den Veranstaltungstitel und eigene Forschungsinteressen, auf zwei Fragen fokussiert:

  • Was wird am Untersuchungsgegenstand sozialistisch konnotiert?
  • Welches Verständnis von (Trans-)Moderne liegt jeweils vor?

Im Folgenden möchte ich die Konferenz im Scheinwerferlicht dieser Fragen kurz zusammenfassen.

Györ – Gergely Hartmann

Gergely Hartmann stellte drei signifikante Bauprojekte in der nordungarischen Stadt Györ vor. Gebaut zwischen 1960 und 1980 zielten sie auf die wichtigsten gesellschaftlichen Funktionen: Rathaus mit einem Paradeplatz (Verwaltung, Politik, Stadtzentrum); Technische Universität und Studentenwohnheime (Bildung, Wohnen); Nationaltheater und Kulturhaus (Kulturprogramm, Kunst).

Das Sozialistische daran war nicht die Form – stilistisch hätte das zu dieser Zeit in vielen kapitalistischen Orten gebaut werden können – sondern im zugewiesenen Inhalt, beispielsweise dem Bespielen des Platzes zu bestimmten Terminen mit Stehdemonstrationen oder Aufführungen von „realsozialistischen“ Theaterstücken Maxim Gorkis im Theaterhaus.

Es waren politisch motivierte Versuche, einer Industriestadt „Kultur“ und „Identität“ zu geben. Aus der nachvollziehbaren (aber deshalb nicht unbedingt richtigen) Überlegung heraus, Industriearbeitende identifizierten sich eher mit einer technoiden Formgestaltung sind die Bauten tadellose Beispiele der technokratisch verliebten Nachkriegsmoderne. Diese These stützt die Feststellung, dass in der Stadt selbst nach 1989 keine neohistoristischen oder postmodernen Gebäude errichtet wurden. Einzig das Nationaltheater präsentiert sich mit dem an Sprungschanzen oder Liftkabel der Skipisten orientierten Dach gestalterisch als narrative Zeichenarchitektur.

Foto aus der Präsentation von Hartmann Quelle: Katharina Sebold

Foto aus der Präsentation von Hartmann

Foto aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation

Foto aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation

Die Beurteilung des Realisierten kreist wie die grundsätzliche Bauintention um identitätsstiftende und repräsentative Qualitäten. Die Kriterien dafür unterliegen jedoch dem Zeitgeist und einem generellen Kommunikationsproblem der Anspruchshaltung. Während die technischen, funktionalen und ökonomischen Bedingungen konkret benannt und in unterschiedlichen Ressorts behandelt wurden/werden, werden die ästhetischen Erwartungen nur implizit geäußert und in Stellvertreterdiskussionen formuliert, sofern sie denn überhaupt bewusst gemacht werden. So wird das ästhetische Empfinden und identitätsstiftende Qualitäten nur als Reaktion auf bereits gebaute Tatsachen vorgebracht.

Foto aus der Präsentation - Panorama GyörQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation – Panorama Györ

Brno – Šárka Svobodová und Jaroslav Sedlák

Dass Moderne nicht nur Architektur, sondern auch den Lebensstil betraf, zeigten anschaulich Šárka Svobodová und Jaroslav Sedlák in ihrem Vortrag über das Wasserreservoir bei Brno. Die Pläne, das Mondäne einer Hafenstadt nach Brno zu bringen, reichten bis ins 19. Jahrhundert zurück. Freilich spielten damals noch andere Überlegungen wie die Kontrolle über die Natur, Elektrizität und Gesundheit der Großstädter durch besseres Trinkwasser und Erholung. Nach dem Bau des Staudamms entwickelte sich der See von Brno in den 1950er und 1960er Jahren zu einer Stätte der Naherholung mit fast schon mediterraner Stimmung.

Foto aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation

Auch fehlte der damals letzte Schrei der modischen Sportaktivitäten nicht: Bootsfahrten wurden vom Staat betrieben und Tickets extrem subventioniert, Segeln, Turmspringen, Bräunen, an der Strandpromenade Flanieren und in der kalten Jahreszeit Wintersport – an diesem Ort durfte die Bevölkerung sich im Urlaub eines weltoffenen Staates wähnen. Auch die Bebauung an den Ufern war architektonisch absolut typisch für die Zeit.

Es gab eine Bebauungsvielfalt aus kleinen Wochenendhäuser aus vorgefertigten Bauelementen, ferner Hotels in allen Preiskategorien und sogar Pionierlager. Die Interieurs der meist kubischen Bauten wiesen als wertvoll konnotierte Materialien wie dunkles Holz und schwarzes Metall vor weißen glatt verputzten Wandflächen. Große Glasfenster öffneten den Blick in die grüne Landschaft. Die Gebäude wurden in einer organischen Bebauungsstruktur schlängelnder Straßen an den mit Kiefern und Gestrüpp bewachsenen Hängen angeordnet.

Auch hier spiegelte weder Form noch Umfang das sozialistische Programm wider. Diese Fragen wurden vielmehr über den Zugang und Partizipation geklärt, was sich vor dem heutigen Hintergrund besonders deutlich zeigt. Die Gegend wird heute vorrangig für Besserverdienende „entwickelt“. Der Abriss architektonischer Beispiele tschechischer Moderne wird mit dem Topos um den Luxus der Wellnessressorts und fehlenden Parkplätzen von privaten Investoren argumentativ umspielt. Der Zugang zum See soll über den Geldbeutel entschieden werden.

Salgótarján – Anna Juhasz

Anna Juhasz setzte sich mit dem städtebaulichen Prozess und dem Kulturprogramm der ungarischen Stadt Salgótarján in den 1960er und 1970er Jahren auseinander. Zuvor wurde der erstaunlich provinziell wirkenden Stadt mit ärmlichen Bauten aus der Barockzeit ein neues Stadtzentrum verpasst. Im Anspruch, als progressive Stadt gesehen und gedacht zu werden, wurde der Abriss alter Häuser wegen schlechter Bauqualität technisch und als Zeichen der bourgeoisen Unterdrückung der Arbeiterklasse ideologisch begründet. Die Geste der Dominanz über die Geschichte und im Ergebnis totaler Überformung historischer Grundrisse ist aber wieder dem Zeitgeist geschuldet und kein sozialistisches Alleinstellungsmerkmal (siehe Berliner Beispiele der „Sanierung durch Abriss“). Das „sozialistische“ Label reicht also weder über das Aussehen der Realisierungen noch über die politische Argumentation der Stadtplanung als eindeutiger Zuordnung aus.

Foto aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation

Fotos aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation

Das riesige städtebauliche Programm wurde mit einem Kulturprogramm verbunden. Dem stand der Grundgedanke Pate, durch die Verkunstung öffentlichen Raums die neue, nun mehr urban zu lebende Bevölkerung in ihrem Verhalten und ästhetischen Empfinden zu kultivieren. Dafür wurden einerseits Kooperationen zwischen den Industriearbeitern und Kunstschaffenden initiiert. Beide Seiten sollten im Sinne der persönlichen Entwicklung der Kollektivmitglieder als vielseitig interessierte und begabte Menschen profitieren. (Heute müssen wir uns dafür mit Selbstoptimierungsliteratur selbst behelfen.) In den entstandenen Werken identifizierte Juhasz zahlreiche Bilder darstellender Kunst, die man thematisch als städtische Imagebilder zusammenfassen könnte. Es ging also wie bei Györ um Identifikationsarbeit, diesmal durch Kunstproduktion.

Andererseits wurden regelmäßig Kunstfestivals im öffentlichen Raum (à la Kassel) organisiert, an denen Kunstschaffende aus ganz Ungarn teilnahmen. An den verbliebenden Objekten lässt sich der transmoderne Übergang von gegenständlichen Darstellungen „real-sozialistischen“ Stils und Inhalts zu abstrakt und gesellschaftskritischen Kunst im öffentlichen Raum ablesen. Die ursprüngliche Festivalintention – Identitätsarbeit für die Bevölkerung – war jedoch nicht nachhaltig. Das Festival versank ab den späten 1970er Jahren in der Bedeutungslosigkeit.

Sztaliváros (heute: Dunaúváros) – Annamária Nagy

Annamária Nagys Präsentation rückte die Aspekte stilistischer Kontinuität der Nachkriegsmoderne am Beispiel der Stadt Sztaliváros (heute Dunaúváros) in den Fokus. Während das urbanistische Konzept 1951-55 einer Materialisation der Prinzipien der 16 Grundsätze des Städtebaus der DDR glich, erscheint die architektonische Gebäudegestaltung für Nagy eher einer modernistischen Transition, dernach die Gebäude modernistisch und nur neoklassizistisch dekoriert seien. Für Nagy ist der stalinistische Neklassizismus/Neobarock eine Form der Moderne mit politischer Aufladung durch Gestaltungsdetails.

Foto aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation

Der Frage nach dem Sozialistischen begegnete man bei Nagy auf zweierlei Weise. Erstens wurden die Baumaßnahmen auf visueller Ebene propagandistisch in Szene gesetzt: Der Aufbau des Sozialismus erscheint in Pressebildern und Postkarten in Farbe, im Sonnenlicht und in ewigem Frühling. Bei Detailaufnahmen tritt zweitens die Symbolik des Sozialismus in Erscheinung: Verwendet wurden etwa fünfzackige Sterne, Kornähren und heroische Menschendarstellungen, aber auch abstrahierte Blümchen, Ornamentbänder griechischer Antike und altägyptisches Palmendekor. Doch auch dieses „sozialistische Mythos“ muss kontextualisiert dekonstruiert werden. Im Aufgreifen antiker Formen spiegelt möglicherweise die gewünschte hierarchisch aufgebaute Form der Herrschaft und gesellschaftliche Machtstruktur wider. Aber die Blümchenmotive sind jedoch Ausdruck der nachkriegszeitlichen Sehnsucht nach unversehrter Idylle im unbeholfenen Heimatkitsch, die viele Teile Europas infiziert hat. Im impulsiv hervorgebrachten Wunsch nach einem „schönen“, aber harmlosen Vaterland wirken die Motive naiv und unbeholfen, aber keineswegs „sozialistisch“. Infantiler Kitsch und Heimwehzierrat kann kein politisches oder wirtschaftliches System für sich monopolisieren. In der nachträglichen Verbrämung als politische Symbolik entlarven sich die Beurteilenden selbst.

Skopje – Peter Sägesser

Am Beispiel von Skopje nach dem Erdbeben ab 1963 arbeitete Peter Sägesser am deutlichsten die Differenzen in der Stadtentwicklung vor (für ihn „utopisch“) und nach 1989 („dystopisch“) heraus. Da Jugoslawien „blockfrei“ war, wurde der Wettbewerb zum Wiederaufbau international rezipiert. Der Siegerentwurf stammte vom Team um Kenzo Tange. Der Architekt war zuvor in Dubrovnik und zeigte sich davon begeistert. In Skopje erhoffte er, seinen in eigenen Worten „totalen Plan“ nach den Prinzipien des Metabolismus zu realisieren.

Foto aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation – Beispielpläne

Foto aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation – Beispielpläne

Foto aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation – Beispielpläne

Die teilweise erfolgten Realisierungen sind eine einzigartige städtebaulich-architektonische Mischung aus Autogerechtigkeit, Funktionstrennung, Vertikalität im Städtebau, Brückenverbindungen, futuristischer Architekturformen und Brutalismus, Postmoderne und Traditionalismus.

Foto aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation – Architekturbeispiele

Foto aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation – Beispiele

Foto aus der PräsentationQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation – Beispiele

Anders als die anderen präsentierten Untersuchungsgegenstände unterlag hier das Bauen nicht dem Zwang, wie auch immer „sozialistisch“ geartet sein zu müssen. Vielleicht ist das der Grund, warum ausgerechnet ein Japaner die utopischen Ideale einer sozialistischen Stadt am stärksten, da existenziell weitreichend und nachhaltig realisierte: „multiple, flexible, networked & transnational, including & integrated“.

Es scheint, als brauche eine neue Gesellschaftsform unverbrauchte bzw. innovative Stilformen, um einer Wiederholung vergangener Machtstrukturen zu entgehen. (Es sei denn, das war gewollt, siehe Beispiel Sztaliváros.) Gerade dieser Aspekt wird in der gegenwärtigen Stadtentwicklung deutlich. Die konservative, rückwärts gewandte Regierung Mazedoniens versucht über den Städtebau, Geschichte selektiv und für bestimmte gesellschaftliche Gruppen zugeschnitten neu zu schreiben. Der Konflikt mit Griechenland wirkt dabei wie ein Benzinkanister im entfachten Feuer, als Landeshauptstadt Repräsentant der „richtigen“ Antike zu sein. Während eine Armee von industriell vorgestanzten pseudoantiken Pseudomarmorskulpturen aufgestellt und viele Projekte in neoklassizistischer Architektur ohne einen gültigen Stadtentwicklungsplan realisiert werden, bekommen die metabolistischen Bauten einen morbiden Zustand, der sie umso utopischer wirken lässt. Die Vernachlässigung hat System. Die neuen Ideale von Skopje scheinen „hegemonic & controlled, excluding & divided, singular & national“ zu sein.

Riga – Wolfgang Kil

Wolfgang Kil widmete sich den urbanen Narrativen, genauer: materiell gewordenen Debatten über die wünschenswerte Gesellschaftsform. Die Analyse öffentlicher Räume nach Aussagen über gesellschaftliche Vorstellungen erstellte er anhand eines Museumsbaus im Rigaer Stadtzentrum. Das 1970 errichtete Museum nach einem Entwurf zweier lettischer Architekten stellte vielmehr eine abstrakte Skulptur denn ein Gebäude dar. Mitten in das im II. Weltkrieg stark zerstörte Zentrum der Stadt gebaut wirkt es wie ein modernistisches Manifesto. Es ist Symbol für den Bruch mit Geschichte und zugleich die Emanzipation vom „realsozialistischen“ Neoklassizismus. Durch Brechungen in den Fassadenplatten und dunklem, matten Material geht es jedoch auch stilistisch in einen Widerspruch zur Funktion als Ruhmeshalle der Roten Armee und sowjetischer Streitkräfte.

Nach der Unabhängigkeit 1989 materialisiert sich auf dem Platz ein Clash urbaner Narrativen, die miteinander schwer zu vereinbaren sind. Wie in Skopje zeichnet sich politisch eine Re-Monoethnisierung ab, die die multiplen Schichten einer Stadt zumindest im Zentrum eindeutig für sich auslegen muss. Zur Linderung der tiefen Identitätskrise wird wieder einmal die Geschichte bemüht. Die Stadtplanung gibt sich Mühe, den Platz in einen „originalen“ Vorkriegszustand zu bringen. So entstanden in direkter Nachbarschaft zur „black box“ Repliken hanseatischer Backsteingotik. Darüber kann man sich wundern. Den Zwiespalt zwischen Ablehnung und Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit kann man jedoch am Gebäude selbst förmlich greifen. Zunächst versuchte man, das Gebäude als Informationszentrum über die deutsche und russische Okkupationszeit wieder „lettisch“ zu konditionieren. Die Aneignung scheint erfolglos zu sein, denn seit einigen Jahren steht das Gebäude leer. Ein neuer Ansatz greift mehr nach Substanz und sieht eine Gebäudeerweiterung in weißer Steinverkleidung vor, die weiter in eine Glasfassade übergeht. Der bislang nicht realisierte Plan symbolisiert eine Entwicklung „from dran to bright to clearness“. Auch diese Pläne werden im multiethnischen, in sich vielfach politisch gespaltenen Staat zwiespältisch betrachtet. Die einen wollen einen Abriss und damit eine symbolische Heilung der Geschichte durch Tilgung der sowjetischen Vergangenheit. Die anderen kritisieren, dass das Gebäude durch die Auseinandersetzung eine unverdiente Wertschätzung erhält. Und andere sehen in der Erweiterung eine Propaganda pauschalisierter Dämonisierung sowjetischer Zeitepoche.

Litauen – Maria Dremaite

Maria Dremaite widmete ihren Vortrag über Hochzeitspaläste und Gebäude für Begräbniszeremonien in Litauen der Transformation christlicher Religiosität zur sowjetischen Spiritualität mit architektonischen Mitteln. Diese Bauten sollten die ehemals kirchlich organisierten Familienfeiern wie Hochzeiten oder Beerdigungen durch neue, säkularisierte übernehmen.

In ihrer Raumanordnung, der Fassade und Interieur sollten sie ein modernes Lebensgefühl für sozialistische Initiationsrituale evozierten. Dabei übernahm Dremaite die Deutung als sozialistisch aus eine soziologischen Perspektive gesellschaftlicher Ideen, die sich in der Architektur niederzuschlagen hatte.

Foto aus der Präsentation - HochzeitspalastQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation – Hochzeitspalast

Befreit von allen religiösen Symbolen verzichteten sie jedoch auch vollständig auf kommunistische Icons. Die städtischen Beispiele orientierten sich an der Formel der Moderne „form follows function“ und setzten in den Interieurs auf hochwertige Materialien. Die Gebäude in ländlicher Umgebung und zeitlich spätere Realisierungen im urbanen Kontext entfernten sich zum Beispiel mit bunten Fenstergläsern nicht weit von den Bautraditionen religiöser Architektur und griffen folkloristische Dekors auf.

Im Bemühen um identitätsstiftende Einzigartigkeit stellt die analytische Betrachtung der Gebäude in Frage, ob nur noch artifizielle Didaktik politischer Intentionen übrig bleibt, wenn alle religiösen Symbole entfernt wurden.

Budapest – Zoltán Erö

Im Vortrag Zoltán Erös über das Bahnhofsgebäude Déli pályaudvar in Budapest stand der heutige Umgang ökonomisch motivierter Emotionsarbeit im Mittelpunkt der Betrachtung. Sozialistisch an diesem 1972 von György Kövári projektierten Gebäude waren für Erö die Fehler im Bauprozess und materielle Unzulänglichkeiten in einer Mischung aus hochwertigem, da aus dem Westen importiertem Material und einheimischer, minderwertiger Baumaterialien (korrodierender Stahl, schlechter Beton, dünne Wände). Gestalterisch zwar gut gelöst, ist das Gebäude funktional nach wie vor eine Katastrophe. Die nutzungsunfreundliche Raumanordnung sah Erö als prototypisch für die sozialistische Serviceunfreundlichkeit an.

Das grösste Problem in der Frage nach der sanierenden und erhaltenden Pflege oder Abriss stellt jedoch die negative Konnotation des Gebäudes dar, die von den heutigen Besitzern in einer impliziten Emotionsarbeit intendiert wird. In einer negativen Spirale destruktiver Atmosphäre entsteht der Eindruck, das sei kein gutes Gebäude und das könne weg. Aktuell besteht eine Diskussion, ob das Gebäude zu den „iconic buildings“ Budapests gehört oder ein großer Schrotthaufen ist, den zu sanieren ökonomisch, funktional und sozial ein Fehler wäre.

Vielleicht, so mein Gedanke als Zuhörerin, würde ich denjenigen raten, die das Gebäude erhalten wollen, eine neue urbane Narrative um dieses Gebäude zu kreieren. Neben neuen zahlungsfähigen Gewerbetreibenden – man kann am Bahnhof Socken „made in China“ kaufen, aber keinen vernünftigen Kaffee – sollten identitätsstiftende Qualitäten des Gebäudes über historische Ereignisse evoziert werden. Es lässt sich bestimmt in der Bestehensgeschichte dieses Baus ein wichtiges Geschehnis finden, womit sich der Bahnhof mit Instrumenten aus der PR-Arbeit positiv besetzen ließe.

Foto aus der Präsentation - Bahnhof in BudapestQuelle: K. Sebold

Foto aus der Präsentation – Bahnhof in Budapest

Polen – Kuba Snopek

Ein sozialistisches Antibeispiel brachte Kuba Snopek in seinem Vortrag – den Kirchenbauten in Polen, die als Zeichen des Protests gegen die kommunistische Politik vor allem ab 1980 in dezentraler, lokal und selbstautorisierter Bauorganisation ästhetisch in einer unglaublichen Vielfalt errichtet wurden. Die Informalität des Baugeschehens – der Bau von Kirchen war zwar nicht verboten, aber auch nicht erlaubt – beeinflusste sowohl die (unsichere, teils komplett fehlende) Zeitplanung, die Materialauswahl (nach dem Prinzip: Für Kirche klauen ist nicht stehlen), die Entwurfsarbeit und die im Gebäude neben Gottesdiensten und Gemeindearbeit integrierten Funktionen.

Im Hintergrund die Kirche in der PräsentationQuelle: K. Sebold

Im Hintergrund die Kirche in der Präsentation

Über die mündlichen Erzählungen zu den Bauten präsentiert Snopek die Gebäude als ein erfolgreiches Laboratorium, lokale Ideen und Talente auszunutzen. Durch die Integration der späteren Nutzer_innen in den Bauprozess entsteht eine identifikatorische Verbundenheit. Denn eines eint alle Gebäude trotz ihrer teilweise radikal modernen Formsprache: Sie alle werden geliebt.