Update: Zu diesem Kommentar sind drei Antworten veröffentlicht worden.

Die Antworten auf urbanophil in der Übersicht:

  1. 02. Feb 2017: „Zur aktuellen Debatte in der Fahrradszene und speziell beim ADFC über die Entwicklung von Radverkehrsanlagen“Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.
  2. 08. Feb 2017: Fahrradland Deutschland.Jetzt! – Neues Denken für mehr RadverkehrLudger Koopmann
  3. 23. Feb 2017: Radverkehr: Fortsetzung der Infrastruktur-Debatte – eine Reaktion von Heiner Monheim, Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.

 

Gemeinsamer Kommentar von Dr.-Ing. Tim Lehmann, Stadtplaner und Mobilitätsforscher (ium, Institut für urbane Mobilität) und Tim Birkholz, Dipl-Ing. Stadt- und Regionalplanung, urbanophil e.V

Nach jahrelangen Diskussionen hat der ADFC auf seiner Hauptversammlung am 13. November 2016 für seine Leitlinien zur Infrastrukturplanung endlich die mögliche Trennung (Separation) von Radspuren zum Autoverkehr an stark befahrenen Hauptstraßen beschlossen. Ein längst überfälliger Schritt. Um zu verstehen, warum diese Entscheidung so schwierig war, muss man weit zurückschauen.

Das Konzept des Vehicular Cycling: Radfahren für starke, sportliche Männer

In den 1970er Jahren prägte John Forester in den USA den Fahrstil des „vehicular cyling“: autoähnliches Radfahren. Damals gab es in US-Städten überhaupt keine Radwege. Um das Rad im Alltag zu nutzen, gab es nur eine Chance: Selbstbewusst im Autoverkehr mitfahren. Die ersten urbanen Radfahrer in den USA waren „strong and fearless“, die Starken und Furchtlosen. Diese Gruppe, in der Regel weiße, sportliche Männer im mittleren Alter, macht etwa 1 Prozent der Bevölkerung aus.

Die Hauptakteure der aufkommenden Radfahrerbewegung der 1980er Jahre in Deutschland entsprechen genau dieser Gruppe der „strong and fearless“. Sie waren Außenseiter im sehr automobil geprägten Deutschland. Wer zu dieser Zeit Fahrrad fuhr, war Überzeugungstäter. Und wenn zu dieser Zeit Radwege gebaut wurden, dann waren die zu schmal, uneben, direkt auf dem Fußweg oder aus vielen anderen Gründen kaum benutzbar. Diese sogenannten “Radwege” prägen bis heute viele deutsche Städte und das schlechte Bild vieler Menschen von Radwegen. 

Schlechte Radwege und falsch interpretierte Studien bilden den Nährboden für “Vehicular Cycling” in Deutschland

Neben der schlechten Qualität gab es auch noch Studien, die angeblich belegten, dass diese Radwege gefährlich sind. Das ist eine historische Fehldeutung, weil hauptsächlich herauskam, dass vor allem die Einmündungen und Kreuzungen gefährlich sind und anders hätten gebaut werden müssen (ausführliche Erläuterungen zu diesen Fehldeutungen finden sich z.B. hier und hier). Mit anderen Worten: Es gab für die Radaktivisten von früher keinen Grund, Radwege gut zu finden. Es ist also nicht verwunderlich, dass bei vielen der Wunsch entstand, die Straße „zurückzuerobern“. Sie haben jahrzehntelang dafür gekämpft, dass „vehicular cycling“ in Deutschland legalisiert wird, indem sie einen benutzungspflichtigen Hochbord-Radweg auf Bürgersteigen nach dem anderen weggeklagt haben. „Vehicular cycling“ bedeutete für sie, dem Auto wieder Raum wegzunehmen.

Anfang der 2000er Jahre schließlich bekam das Fahrrad immer mehr Aufmerksamkeit bei Stadtplanern. Es sollte wichtiger Teil der Lösung urbaner Probleme wie Verkehrsinfarkt und Klimawandel werden. In Politik, Verwaltung und Ingenieurbüros wurden die Straßenkämpfer von gestern plötzlich zu den Gestaltern des Radverkehrs von morgen. Ihre Qualifikation: Sie waren überzeugte Radfahrer. Und das ging vielerorts gehörig schief. Aus der eigenen Perspektive des „vehicular cycling“ setzten sie sich dafür ein, dass diese Form der Infrastruktur in Richtlinien und Planungsempfehlungen verankert wurde und in der Folge deutsche Kommunen bereitwillig Schutz- und Angebotsstreifen auf die Fahrbahn legten. Das war kostengünstig und der Raum des Autos wurde dabei nicht infrage gestellt, denn zur Glaubensrichtung „vehicular cycling“ gehörte natürlich der Autoverkehr.

“Radfahren auf der Straße” funktioniert nicht für die “Mitte der Gesellschaft”

Derweil kam das Alltagsradeln (nach Jahrzehnten der Abwesenheit wieder) in der Mitte der Gesellschaft an. Immer mehr Menschen, die nicht als „Starke und Furchtlose“ geboren wurden, wollten jetzt ebenfalls Radfahren und fühlten sich im Autoverkehr zwischen endlosen Reihen geparkter Autos rechts und schnell fahrender Autos links nicht wohl. Viele trauten sich weiterhin gar nicht aufs Rad, andere fuhren auf dem Gehweg, weil sie sich dort sicherer fühlten. Das führte zu Konflikten mit Fußgängern. 

Geschützte Radspuren: Das Ausland macht seit Jahren vor, wie sichere Fahrrad-Infrastruktur geht, Deutschland guckt zu und pinselt mit Farbe

In Dänemark und Holland wird schon seit Jahrzehnten so hochwertige Rad-Infrastruktur gebaut, dass Radfahren etwas selbstverständliches ist. Jede(r) fährt, von Jung bis Alt! Das blieb nicht unentdeckt und so guckten sich andere Länder diese “Best Practice” erfolgreich ab. Nur Deutschland machte nicht mit: Denn während in den letzten Jahren in den USA, Frankreich, Spanien und selbst in London die ersten separierten Radspuren entstanden sind, um sicheres, attraktives Radfahren für alle zu ermöglichen, tobt(e) innerhalb der deutschen Fahrradszene ein erbitterter Glaubenskrieg.

Normalität in Kopenhagen: Kinder auf Fahrrädern (auf Radwegen) (c) Tim BirkholzQuelle: Tim Birkholz

Normalität in Kopenhagen: Kinder auf Fahrrädern (auf Radwegen) (c) Tim Birkholz

Die „vehicular cyclists“ versuchten mit allen Mitteln, eine Separation der Radspuren zu verhindern. Man könne nicht mehr überholen, es bestünde die Gefahr von Kollisionen, die Straßen seien nicht breit genug, man solle nicht ein Verkehrsmittel gegen die anderen ausspielen. Es ging schlichtweg nicht, davon waren sie fest überzeugt. Die technischen Details der Argumente waren selbst für viele Fachleute kaum nachzuvollziehen. Doch das tragische ist: Radinfrastruktur in Deutschland wurde in den letzten zehn Jahren zu großen Teilen nach den Vorstellungen der “Vehicular Cyclists” gebaut. Radspuren und -streifen auf der Straße, lediglich durch weiße Farbe markiert, häufig an endlosen Reihen geparkter Autos entlang – unangenehm, stressig und gefährlich für die meisten Radler.

Der Volksentscheid Fahrrad setzt neue Maßstäbe und auch der ADFC ermöglicht endlich “separierte Radspuren”

Unbewusst verteidigten diejenigen, die eigentlich die Radinfrastruktur von morgen planen sollten damit den autogerechten Straßenraum von gestern. Im Jahr 2015 war für viele Radfahrer das Fass übergelaufen. In Berlin formierte sich der Volksentscheid Fahrrad, um endlich eine zeitgemäße Radinfrastruktur für alle zu fordern, um den autogerechten Straßenraum gerecht aufzuteilen. Die Qualitäts-Anforderungen an die Rad-Infrastruktur die die Initiative in ihrem Rad-Gesetz formuliert, gehen deutlich über das hinaus, was aktuell auf Berliner (und anderen deutschen) Straßen gebaut wird.

Am 13. November 2016 gelang es dem ADFC auf seiner Bundesversammlung nun endlich ebenfalls, die separierten Radspuren in den Werkzeugkasten für Radinfrastruktur mit aufzunehmen. Als eine weitere Möglichkeit für Rad-Infrastruktur, die je nach örtlicher Situation angewendet werden kann. Es ist das Ende eines langen, erbitterten Glaubenskriegs.

Guter Rad-Infrastruktur gehört die Zukunft

Ist dies nun auch das Ende des „vehicular cycling“? Nein, denn gute Radinfrastruktur wird freiwillig genutzt, sie braucht keine Benutzungspflicht. Wenn einige wenige auch bei guter Radinfrastruktur künftig mit den Autos fahren, wird die Welt nicht untergehen. Erfahrungen in anderen Ländern mit separierten Radspuren, den „protected bikelanes“, zeigen, dass sich viel mehr Menschen aufs Rad trauen, sobald es sie gibt. Sie erschließen eine viel größere Zielgruppe für den Radverkehr und lassen das Fahrrad zu einem ganz selbstverständlichen Teil der Mobilität im Alltag werden.

Das Ende von „vehicular cycling“ wird erst mit dem Ende des Automobils als Hauptverkehrsmittel in Städten kommen, also in etwa 15 bis 20 Jahren. Dann gehen die meisten „vehicular cyclists“ ohnehin langsam auf die 80 zu. Spätestens dann werden sie sich höchstwahrscheinlich über sichere Radwege freuen.

 

Disclaimer: Beide Autoren sind Mit-Initiatoren des Berliner Volksentscheid Fahrrad und waren als Delegierte des Berliner Landesverbandes des ADFC auf der Bundeshauptversammlung in Mannheim von der im Text die Rede ist. 


 

Update 02. Februar und 08. Februar 2017: Zu diesem Kommentar sind zwei Antworten veröffentlicht worden.

Die Diskussion auf urbanophil in der Übersicht:

  1. 30. Nov 2016: „ADFC beschließt geschützte Radspuren (protected bike lanes) – Das Ende vom Radfahren unter Autos (vehicular cycling)?“, von Dr. Tim Lehmann und Tim Birkholz.
  2. 02. Feb 2017: „Zur aktuellen Debatte in der Fahrradszene und speziell beim ADFC über die Entwicklung von Radverkehrsanlagen“Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.
  3. 08. Feb 2017: Fahrradland Deutschland.Jetzt! – Neues Denken für mehr RadverkehrLudger Koopmann
  4. 23. Feb 2017: Radverkehr: Fortsetzung der Infrastruktur-Debatte – eine Reaktion von Heiner Monheim, Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.