Es ist Frühling in Deutschland. Das erkennt man unter anderem daran, dass die Aufregung über sogenannte “Kampf-Radler” insbesondere in den Boulevard-Medien inflationär zunimmt. Schon im zweiten Jahr in Folge wird die Diskussion aber durch jemanden befeuert, der eigentlich für alle Verkehrsteilnehmer zuständig ist und dementsprechend ausgleichend auftreten sollte: Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer. Aus gegebenem Anlass veröffentlich wir einen Gastartikel von Martin Randelhoff, dem Autor und Betreiber des ausgesprochen lesenswerten Blogs Zukunft Mobilität.

Sehr einseitig: die "Kampf-Radler"-Rhetorik von Peter Ramsauer

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer möchte gegen die sogenannten „Kampf-Radler“ vorgehen. Wieder einmal. Dabei verkennt er allerdings das Grundproblem.

In vielen deutschen Städten und Ländern wächst der Radverkehr. Dieser Effekt ist politisch erwünscht und gewollt. Der Radverkehr ist eine günstige, umweltfreundliche Verkehrsart, die zudem wenig Fläche verbraucht. Daher arbeiten Verkehrsplaner und engagierte Mitarbeiter in Kommunen und anderenorts stetig daran, die Bedingungen für den Radverkehr zu verbessern und diesen zu fördern.

Dies ist auch dringend angebracht. Künftig werden nur jene Städte erfolgreich sein, die ihren Einwohnern eine Wahl lassen. Die Wahl, welches Verkehrsmittel für den jeweiligen Zweck das richtige ist. Mono-Strukturen sind überholt und werden sich in Zukunft selbst abschaffen. Die Abhängigkeit von einem einzigen Werkzeug (in heutigen Zeiten zumeist das Auto) war langfristig noch nie existenzsichernd. Oder gar nachhaltig. Oder innovativ. Oder zukunftsgewandt.

Viele Städte befinden sich in einem Transformationsprozess, um die Herausforderungen der Zukunft bewältigen zu können. Die Förderung des Radverkehrs ist dabei ein wichtiger Baustein.

Dies ist eine Seite der Medaille.

Auf der anderen Seite fühlen sich einige Fußgänger und Autofahrer ebenso wie unser Bundesverkehrsminister von dieser neuen Entwicklung bedroht. Die extremste Ausprägung ist der “(Kampf-)Radler”. Aber nicht weil er per se Menschen verletzen will oder sich aus anarchischen Beweggründen gegen das System auflehnt. Das Problem „Kampf-Radler“ ist nur das Phänomen eines größeren Problems. Wenn auch ein Schwerwiegendes…

Dies zeigen alleine die Reaktionen:

In Autozeitschriften und Automobilforen wird über die wachsende Gefahr auf deutschen Straßen geschimpft und eine starke Verfolgung und Bestrafung des rüpelhaften Verhaltens gefordert. Ein Wunsch, dem unser Bundesverkehrsminister anscheinend gerne nachkommen möchte.

Gefordert werden stärkere Strafen, eine Kennzeichenpflicht für Fahrräder, eine Helmpflicht, eine absolute Radwegbenutzungspflicht und weitere ordnungspolitische Maßnahmen, deren Hauptziel es ist, den Radverkehr einzuschränken oder zumindest das Wachstum abzuschwächen.

Regelverstöße und Gefährdungen anderer Menschen sind per se schädlich und uneingeschränkt abzulehnen. Menschen, die andere Personen gefährden, verletzen oder gar töten, müssen durch die entsprechenden Stellen verfolgt und von Gerichten bestraft werden. Hier gibt es keinerlei Zweifel. Regeln sind in unserer Gesellschaft vorhanden, um unser Zusammenleben erträglich zu machen. Ohne Regeln herrscht das Recht des Stärkeren, der seine Macht willkürlich ausüben kann. Unsere Gesellschaft hat sich vor einiger Zeit dazu entschlossen, das persönliche Mittel der Gegenwehr und Rache zu institutionalisieren und in die Hände des Staates zu legen. Wir alle berufen uns tagtäglich auf diese Regeln und Konventionen. Aus diesem Recht folgt allerdings auch die Pflicht, uns diesem System selbst unterzuordnen und die Regeln zu akzeptieren. Damit wir friedlich zusammenleben können.

Kampf-Radler, Kampf-Autofahrer, Kampf-Fußgänger…

Das Auflehnen gegen Regeln und Konventionen wird im Leben jedes Menschen irgendwann attraktiv. Wir verstehen nicht immer den Grund für eine Regel. Aus Unverständnis wird Ablehnung und aus Ablehnung ein Regelverstoß. Jeder, der schon einmal mit Menschen, die sich über Geschwindigkeitsmessungen aufregen (Abzocke!), geredet hat, wird mir da beipflichten.

Eine Verrohung der Sitten auf deutschen Straßen wird seit einigen Jahren immer wieder konstatiert. Dies betrifft nicht nur den Radverkehr, sondern auch den Auto- und sogar Fußgängerverkehr. Durch das verstärkte Auftreten von Radfahrern in jüngerer Zeit entstehen nur neue Konfliktpotenziale und Reibungsflächen. Hinzu kommt: Das Neue und Unbekannte wird zunächst per se abgelehnt oder zumindest mit Skepsis begegnet.

Konservative Verkehrspolitiker wie Peter Ramsauer haben ein bestimmtes Weltbild. Ich möchte nicht unterstellen, dass unser Bundesverkehrsminister den Radverkehr generell ablehnt. Er ist ihm nur nicht geheuer. Analogien lassen sich durchaus mit dem Internet ziehen. Auch innerhalb und außerhalb des Internets gibt es Diskussionen über dieses Medium. Gefordert wird eine Ausweispflicht, ein Verbot von Pseudonymen, eine stärkere Durchsetzung von Regeln aus der analogen Welt und ein Übertragen von bisherigen, uns wohlbekannten Strukturen auf diesen (noch) freien Raum.

Dabei werden Forderungen erhoben, die aus Unkenntnis über die Struktur dieses Mediums, nicht umsetzbar sind. Unter anderem um Beleidigungen und rüpelhaftem Verhalten zu begegnen, die unter dem Deckmantel eines Pseudonyms abgesondert werden.

Wer erkennt die Analogie zum Radverkehr?

Die Forderung einer Klarnamenpflicht entspricht dem gleichen Grundsatz einer Kennzeichenpflicht für Fahrräder. Die (vermeintliche) Verrohung der Sitten im Internet der Verrohung im Straßenverkehr.

Die geforderten Maßnahmen werden die Probleme aber weder im virtuellen Raum noch im Straßenraum lösen.

Ich kann mich nicht zu 100 Prozent in einen “Rüpel-Radler” hineinversetzen. Ich kann nur versuchen, aus anderen Verhaltensmustern Ableitungen zu ziehen.

Wenn Menschen unter Stress stehen, steigt der Adrenalinspiegel und unsere Rücksichtnahme nimmt ab. Wer von uns achtet in der gleichen Weise auf andere, wenn man schnell seinen Anschlusszug erreichen muss? Ich jedenfalls nicht (auch wenn ich zum Glück noch nie jemanden dabei verletzt habe).

Radfahrer agieren im Straßenraum nicht alleine. Rücksichtsloses Verhalten von Autofahrern gegenüber Radfahrern ist in deutschen Städten leider an der Tagesordnung. Es wird zu nah überholt, gehupt, die Vorfahrt missachtet und am Steuer über die vermeintlich langsamen Radfahrer geschimpft, die sich doch bitte auf die Radwege verziehen sollen. Man hat schließlich für diese Straße Steuern bezahlt und dabei das Recht, ungehindert zu fahren, gepachtet.

Vergessen wird oftmals, dass Radfahrer die gefährdeteren Verkehrsteilnehmer sind. In Interaktion mit Pkw-Verkehr existiert ein großes Stresspotenzial, schließlich schwebt man ständig in der Gefahr geschnitten oder verletzt zu werden. Natürlich existieren in der Extrem-Radler-Fraktion Sprüche wie „Wer in der Gosse fährt, muss sich nicht darüber wundern, wenn er dort landet.“ Solche Aussagen sind aber kein Symptom, sondern stellen das Dilemma recht passend dar.

Konfliktpotenzial ist auf allen Ebenen vorhanden. Fußgänger versuchen mit Schirmen und Stöcken Radfahrern in die Speichen oder auf den Körper zu schlagen, Autos drängeln, öffnen abrupt die Türen oder hupen und Radfahrer schlagen auf Dach und Motorhaube. Ein Aggressionspotenzial ist auf allen Seiten vorhanden.

Der systemische Fehler

Herr Ramsauer und alle anderen, die über “Rüpel-Radler” schimpfen, harte Strafen fordern und oftmals selbst nicht besser sind, verkennen nur, dass nicht der Radler an sich an den Verwerfungen und dem Konfliktpotenzial Schuld ist, sondern die Strukturen nicht mehr zeitgemäß sind.

Eine schlechte Radwegeinfrastruktur, schlechte Straßen (unter denen Radler mindestens genauso, wenn nicht sogar stärker leiden als Autofahrer), mangelnde Abstellmöglichkeiten und eine nicht vorhandene Kultur des Miteinanders sind Alltag in deutschen Städten.

In vielen Regionen und Kommunen kommt dem Radverkehr nicht die Aufmerksamkeit entgegen, die ihm eigentlich zusteht. Fahrrad fahren wird als Freizeitbeschäftigung gesehen, nicht aber als Werkzeug zur Bewältigung der Alltagsmobilität anerkannt. Menschen, die in falsche Strukturen gedrängt werden, stehen unter Stress. Menschen, die nicht anerkannt werden oder gar Ablehnung erfahren, werden wütend. Menschen, die bestehende Strukturen bedrohen und mehr Raum für sich einfordern, werden als Gefahr angesehen. Menschen, die eine andere Lebenseinstellung haben und die eigene kritisieren, sind unsympathisch. Aber es sind Menschen!

Eines ist klar: Der Radverkehr wird auch in Zukunft weiter wachsen. Entweder löst sich das Gefühl des gegenseitigen Misstrauens von alleine oder wir bekommen ein Problem. Ich hoffe auf Ersteres. Hass und Misstrauen waren noch nie eine Basis für ein friedliches Miteinander.

Die Lösungskette

Wir sind mitten in einer Phase des Argwohns. Neues wird allerdings irgendwann bekannt und dann selbstverständlich. Mit fortschreitender Zeit dürften sich die vorhandenen Probleme zu einem gewissen Teil selbst lösen.

Durch stärkere Präsenz steigt die Aufmerksamkeit. Durch mehr Aufmerksamkeit wächst die Rücksichtnahme. Durch mehr Rücksichtnahme sinkt die Zahl der Unfälle, aggressives und rüpelhaftes Verhalten wird gesellschaftlich geächtet.

Man muss es nur so weit kommen lassen. Eine Schwächung dieses kleinen Sprosses für ein besseres Miteinander im Straßenverkehr durch Verbote ist kontraproduktiv. Nur zu hoffen, dass dies unser Bundesverkehrsminister auch irgendwann versteht.

“Kampf-Radeln” war bereits Thema auf Zukunft Mobilität. Für ein weitergehendes Verständnis dieses Themenkomplexes (u.a. Analyse von Unfallzahlen, Verkehrsverstößen durch Radfahrer, etc.) legen wir die Lektüre des Artikels “Das Blech des Stärkeren- der Spiegel auf Abwegen” auf Zukunft Mobilität nahe – eine Analyse des Spiegel-Titelthemas “Der Straßenkampf”.