Die Diskussion um die richtige Infrastruktur für Radfahrende und zukünftige Radverkehrspolitik geht weiter: Ludger Koopmann, Stellvertretender Bundesvorsitzender des ADFC und verantwortlich für die Ausarbeitung der neuen Infrastruktur-Leitlinien des ADFC, antwortet auf die Replik von Prof. Heiner Monheim. Wir freuen uns darüber, dass die Diskussion fortgesetzt wird. 

Die anderen Diskussionsbeiträge auf urbanophil in der Übersicht:

  1. 30. Nov 2016: „ADFC beschließt geschützte Radspuren (protected bike lanes) – Das Ende vom Radfahren unter Autos (vehicular cycling)?“, von Dr. Tim Lehmann und Tim Birkholz.
  2. 02. Feb 2017: “Zur aktuellen Debatte in der Fahrradszene und speziell beim ADFC über die Entwicklung von Radverkehrsanlagen”Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.
  3. 08. Feb 2017: Der unten stehende Beitrag.
  4. 23. Feb 2017: Radverkehr: Fortsetzung der Infrastruktur-Debatte – eine Reaktion von Heiner Monheim, Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.

 


Fahrradland Deutschland.Jetzt! – Neues Denken für mehr Radverkehr

Antwort auf Heiner Monheim „Zur aktuellen Debatte in der Fahrradszene und speziell beim ADFC über die Entwicklung von Radverkehrsanlagen“ – Ludger Koopmann, Stellvertretender Bundesvorsitzender ADFC:

Der ADFC hat in den vergangenen sechs Jahren eine sehr intensive und zum Teil auch sehr kontroverse (rad-)verkehrspolitische Diskussion geführt. Diese Diskussion wurde mit Fachleuten in- und außerhalb des ADFC geführt und durch eine sehr breite Mitgliederbeteiligung flankiert. Als Ergebnis dieses Diskussionsprozesses wurde 2013 in Aachen von der Bundeshauptversammlung das Verkehrspolitische Programm des ADFC einstimmig beschlossen. 2016 beschloss die Bundeshauptversammlung des ADFC die auf dem Verkehrspolitischen Programm basierenden „Leitlinien für eine sichere, zukunftsfähige Radverkehrsinfrastruktur“ mit über 96% der abgegebenen Stimmen. Bei einer Mitgliederbefragung mit mehr als sechstausend Teilnehmern erhielten die einzelnen Leitlinien eine Zustimmungsrate von 83 bis 99%. Diese extrem hohen Zustimmungswerte seien hier erwähnt, weil sie deutlich machen, dass die Positionen des ADFC auch unter sehr unterschiedlichen Typen von Radfahrenden konsensfähig sind.

Worum geht es bei der Position des ADFC?

In der Zeit ab den Fünfzigern bis zur Jahrtausendwende stand im Mittelpunkt der Radverkehrspolitik, den wenigen Rad fahrenden Menschen Platz auf der Fahrbahn zu verschaffen. Das Fahrrad war vom Aussterben bedroht (wie es der ADFC-Gründer Jan Tebbe einmal formulierte) und die Autolobby beherrschte das Feld der Verkehrspolitik unangefochten. Radverkehrsanlagen waren allenfalls im marginalen Umfang und in schlechtester Qualität durchzusetzen. Deshalb fuhren fast nur die mutigen Männer, die für sich die Straße zurückerobern wollten, da das Fahrrad ein normales Verkehrsmittel ist. Daraus ergab sich die Forderung: „Das Fahrrad ist ein Fahrzeug und gehört auf die Fahrbahn.“  So lautete das allgemeine Narrativ über diese Phase der Radverkehrspolitik in den fünfziger bis achtziger Jahren. Es fuhren aber nicht nur die mutigen Männer, es fuhren auch Frauen, ob sie nun mutig waren oder nicht. Sie hatten keine Wahl, denn die meisten besaßen keinen Führerschein und noch weniger hatten ein Auto zu Verfügung. Dieses wurde damals selbstverständlich vom Mann für den Weg zur Arbeit genutzt. Frauen auf dem Fahrrad mit zwei Einkaufstaschen am Lenker und einem Kind auf dem Rücksitz die auf dem Gehweg fuhren waren keine Seltenheit. Und die dritte Gruppe die Rad fuhr waren die Kinder. Selbstverständlich gingen die Kinder zu Fuß oder fuhren mit dem Rad zur Schule oder zum Spielen. Diese beiden Gruppen waren zwar mit dem Rad unterwegs, aber sie waren weder in der Verkehrspolitik noch in der Verkehrsplanung tätig. Das war damals noch weniger üblich als heute. Es fuhren also nicht nur mutige Männer Fahrrad, aber es waren ausschließlich diese Männer, die die Radverkehrspolitik bestimmten.

Daraus resultierte die Forderung nach dem Fahren auf der Fahrbahn und die strikte Ablehnung einer Radwegebenutzungspflicht, die mit Unterstützung des ADFC vor dem Bundesverwaltungsgericht weitgehend gekippt wurde (2011). Diese Ablehnung war sehr nachvollziehbar. Handtuchbreite Bordsteinradwege im miserablen Zustand mit schlechten Sichtbeziehungen zum Autoverkehr waren (und sind) häufige Realität. Außerdem entstanden in den fünfziger bis achtziger Jahren die von Heiner Monheim beschriebenen Verkehrsberuhigungen und die ersten Ansätze einer Radverkehrsinfrastruktur auf der Fahrbahn (Radfahrstreifen, Schutzstreifen). Bauliche Radwege wurden aber weitgehend abgelehnt, was von der Politik gerne gesehen wurde: bauliche Radwege kosten viel Geld und benötigen Platz. Die Freigabe der Fahrbahn im Mischverkehr für die mutigen Radfahrer und die Freigabe des Fußweges für vorsichtigere Radfahrer blieb Gott sei Dank eine Ausnahme und die Bezeichnung „Fakultativlösung“ hierfür erscheint mir doch sehr euphemistisch zu sein.

Die gesamte (Rad-)verkehrsplanung ging in diesen Jahren vom „Fahrrad als Fahrzeug“ aus. Die mutigen Rad fahrenden Männer forderten die Gleichstellung des Fahrrades mit dem Auto. Die Verkehrsplaner richten die Notwendigkeit von Radverkehrsinfrastrukturen ausschließlich an der Zahl der Autos aus (nie nach der Zahl der Radfahrenden – und das ist in der ERA bis heute so). Verkehrsplanung hieß und heißt eine bestimmte Anzahl Fahrzeuge in einer bestimmten Zeit durch eine Straße zu bekommen. Und das Fahrrad war ebenfalls nur ein Fahrzeug.

Der ADFC hat diesen Ansatz in seiner verkehrspolitischen Arbeit sehr grundsätzlich diskutiert. Insbesondere der Blick nach Dänemark und in die Niederlande zeigte, dass es Lösungen für die Radverkehrsinfrastruktur gibt, die deutlich mehr Menschen auf das Fahrrad bringt. Ein weiterer Blick ging in USA, wo sich in den letzten 10 bis 15 Jahren enorm viel im Bereich Radverkehr getan hat. Der dort jahrelang prägende Ansatz war mit dem deutschen identisch (Fahrrad als Fahrzeug auf die Straße). Die dortige Diskussion seit der Jahrtausendwende lässt sich mit drei Konzepten umschreiben: Four Types of Cyclists, Low Traffic Stress Level und Protected Bikelanes. Diese Konzepte hat der ADFC intensiv diskutiert und fast im Alleingang in die deutsche Radverkehrsszene eingebracht, namentlich der Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork.

Es geht darum die Radverkehrspolitik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Nicht das Fahrrad steht bei den Überlegungen des ADFC im Vordergrund, sondern der Rad fahrende Mensch.

Dabei gab es zwei neue Ansätze die wir in die Diskussion eingebracht haben:

  1. Wir machen keine Verkehrspolitik nur für die schon Rad fahrenden Menschen, sondern wir wollen die 60% der besorgten aber interessierten Menschen aufs Rad bringen. Planerisch ist das der Umstieg von der Bedarfsplanung auf die Angebotsplanung. Das war und ist in der Tat ein Paradigmenwechsel mit erheblichen Konsequenzen insbesondere bei der Mittel- und Flächenverteilung.
  2. Wir haben den Ansatz „Das Fahrrad ist ein Fahrzeug und gehört auf die Fahrbahn“ ersetzt durch den Ansatz „Wir wollen, dass alle Menschen Fahrrad fahren“. Diese Änderung ist noch erheblich radikaler als das Paradigma im ersten Punkt. Nicht mehr das Fahrzeug ist der entscheidende Planungs- und Politikansatz, sondern die Menschen. Das ist für die Radverkehrsplanung in Deutschland revolutionär. Jetzt werden Fragen gestellt, die eher den Sozialwissenschaften zugeordnet werden, als den Ingenieurswissenschaften. Wie wollen die Menschen fahren, was hält sie davon ab, wie wichtig ist gefühlte Sicherheit und wie wichtig ist Komfort. Städte von 8 – 80 sind auf einmal in aller Munde, Verkehrsplanung wandelt sich auch durch die Aktivitäten des ADFC in den letzten Jahren, weg von der Autoplanung hin zu einer Mobilitätsplanung für Menschen.

Wenn Radwege von allen Menschen genutzt werden sollen, müssen sie objektiv und subjektiv sicher sein. Objektive und subjektive Sicherheit sind keine Widersprüche, sondern sie bedingen einander. Radwege müssen selbstverständlich komfortabel sein und Radverkehrsnetze müssen vollständig und ohne Netzlücken sein. Radwege müssen diese Bedingungen für alle Menschen erfüllen.

Radwege enden nicht an Einfahrten und Kreuzungen. Deshalb ist es selbstverständlich, dass diese sicher gestaltet werden. Heiner Monheim schreibt als Argument gegen Bordsteinradwege, dass die „natürliche Haltelinie eines ein- und abbiegenden oder querenden KFZ ist der Fahrbahnrand“ ist. Dabei vergisst er, dass Gehwege benutzungspflichtige Radwege sind – für Kinder. Die müssen zwar an jeder Straßeneinmündung absteigen (so vermittelt man Kindern die wahre Freude am Radfahren), aber nicht an jeder Grundstückseinfahrt. Noch einmal: alle Menschen sollen sicher Rad fahren können – auch Kinder und Senioren.

Gute Ideen brauchen auch immer den richtigen Zeitpunkt. In den sechziger oder siebziger Jahren wäre man mit den jetzigen Forderungen des ADFC voll vor die Wand gelaufen. Dennoch gab es auch damals schon Menschen, die sich für eine solche Politik einsetzten oder wenigsten die Probleme analysierten, man schaue nur bei Alexander Mitscherlich (Die Unwirtlichkeit unserer Städte) oder auf die Auseinandersetzung Jacobs – Moses in den USA. Aber sie blieben Rufer in der Wüste, die eigentlich erst seit einigen Jahren in ihrer Bedeutung erkannt werden.

Von daher war der Ansatz von Heiner Monheim und im Prinzip der ganzen Szene damals richtig. Man hat (Rad-)verkehrspolitik gemacht, die möglich und in weiten Bereichen damals auch sinnvoll war. Und natürlich waren die Verkehrsberuhigungen und Fußgängerzonen ein wichtiger Schritt, die Städte wieder für die Menschen zurückzuerobern. Selbst dort wo die doch mehr als fraglichen Bordsteinradwege mit Handtuchbreite gebaut wurden, haben sie enorme Erfolge erzielt: alle Fahrradstädte in Deutschland mit einem deutlich über dem Durchschnitt liegendem Modal Split Anteil fürs Fahrrad haben mehr oder weniger flächendeckend diese Bordsteinradwege: z.B. Bremen, Münster, Oldenburg.

Es geht also in keinem Fall um einen Glaubenskrieg oder um die Verurteilung der planerischen Ansätze der Vergangenheit. Es geht darum den nächsten Schritt in der Radverkehrspolitik und Planung zu machen: die Wünsche der Menschen umsetzen. Sehr vereinfacht als Parole heißt das: „Nicht die Radwege abschaffen, sondern sie endlich sicher und komfortabel gestalten“. Ob es dann im konkreten Fall ein Bordsteinradweg oder eine Protected Bikelane oder ein richtig guter Schutzstreifen in Kombination mit Tempo 30 wird, ist für den ADFC nicht entscheidend, sondern situationsabhängig.

Entscheidend ist, dass wir eine Radverkehrsinfrastruktur schaffen, die von allen Menschen sicher und komfortabel genutzt werden kann. Schluss machen müssen wir aber mit der Bescheidenheit der Radverkehrsszene. Ob ADAC und IHK meckern kann für uns kein Argument sein. Lebenswerte Städte können nicht vom Autoverkehr dominiert sein, sie müssen von Menschen dominiert werden. Dazu leistet ein hoher Radverkehrsanteil einen großen und unverzichtbaren Beitrag und selbstverständlich muss der zu Lasten des Autoverkehrs ausgebaut werden.


Die Diskussion auf urbanophil in der Übersicht:

  1. 30. Nov 2016: „ADFC beschließt geschützte Radspuren (protected bike lanes) – Das Ende vom Radfahren unter Autos (vehicular cycling)?“, von Dr. Tim Lehmann und Tim Birkholz.
  2. 02. Feb 2017: “Zur aktuellen Debatte in der Fahrradszene und speziell beim ADFC über die Entwicklung von Radverkehrsanlagen”Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.
  3. 08. Feb 2017: Fahrradland Deutschland.Jetzt! – Neues Denken für mehr Radverkehr, Ludger Koopmann
  4. 23. Feb 2017: Radverkehr: Fortsetzung der Infrastruktur-Debatte – eine Reaktion von Heiner Monheim, Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.