Ein Interview mit Tilman Bracher, dem Bereichsleiter Mobilität und Infrastruktur beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) und Gründer der Fahrradakademie, über Radverkehr in Deutschland, den Niederlanden und Dänemark sowie den deutschen Städten Berlin und Hamburg. Am Beispiel von Hamburg erklärt er, welche Schwierigkeiten entstehen können, wenn die Infrastruktur einer Stadt fahrradfreundlich werden soll und welchen Effekt Fahrradverleihsysteme dabei haben können.

 

A: Wie beurteilen Sie die Situation des Radverkehrs in Ländern wie den Niederlanden und Dänemark gegenüber der von Deutschland?

F: Holland ist weiter, Dänemark nicht. Holland hat eine Institutionalisierung. Das Fietsberaad fungiert hier als amtliche Institution, die vom Wirtschaftsministerium getragen wird, da das Thema auch als Exportfaktor und das Fahrrad als nationales Branding angesehen wird. Die Holländer machen z.B. viel Consulting, das ist eine Rolle, die die Regierung auch international mit Nachdruck einbringt, das ist bei uns noch nicht so weit. Bei uns haben wir diese Institutionalisierung zwar de facto, aber noch nicht amtlich, der Fahrradtourismus wird zwar immer wichtiger und da sieht man auch, das da viel Musik drin ist, aber Deutschland gilt immer noch weithin als Automobilstandort. Wir stehen jedoch mit den Holländern im gegenseitigen Austausch. Anfang der 1990er wurde dort ein nationaler Radverkehrsplan, der Masterplan Fiets, auferlegt, der das Vorbild für den Nationalen Radverkehrsplan 2002 – 2012 in Deutschland war. Das Fahrrad ist in Holland Mainstream, es ist immer präsent und automatisch Teil der Verkehrspolitik. Die Systemzusammenhänge werden hier viel detaillierter gesehen. Dieses integrierte Denken haben wir in Deutschland noch nicht, was auch mit der föderalen Struktur zusammenhängt. In Dänemark wurde ebenfalls eine nationale Plattform angestrebt, die Danish Cycling Embassy, aber diese ist im Grunde nur eine gemeinsame Dachmarke. Es gibt weder eine gemeinsame Finanzierung noch gemeinsame Büros. Die Plattform lebt nur durch die Aktivität der Beteiligten. Nur Kopenhagen als Ökohauptstadt ist hier wesentlich weiter, da Radverkehr hier als eine von vier Säulen der Stadt fungiert. Die wissen was für Musik in dem Thema ist und leben das auch als Stadt. Copenhagenize heißt ja auch „Radverkehrsstadt werden“. [urbanophil berichtete bereits]

F: Wie beurteilen Sie denn die derzeitige Ausrichtung im BMVBS zum Thema Radverkehr?

A: Nach dem Regierungswechsel hat es Umstruktierungen in den Referaten gegeben, die immer noch nicht abgeschlossen sind. Zwar ist äußerlich keine Kürzung erfolgt, aber aufgrund anderer Aufgaben der Beteiligten haben die tatsächlichen Ressourcen sicher abgenommen. Aber der politische Wille, das Projekt [den Nationalen Radverkehrsplan] fortzuführen, ist weiterhin vorhanden. Das Referat ist dabei, sich wieder reinzufinden. Wie das gelingt, bleibt abzuwarten. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass der Stellenwert nachgelassen hat.

F: Welche Rolle spielt das Difu im Themenbereich Fahrradverleihsysteme?

A: Die Rolle des Difu ist eigentlich die geworden, dass wir die Bundesregierung beim Thema Fahrradverleihsysteme unterstützen. Das hat mit der Homepage zum Nationalen Radverkehrsplan zu tun, die wir für die Bundesregierung entwickelt haben. Dadurch haben wir eine relativ wichtige Stellung. Wir sind im Bund-Länder-Arbeitskreis Radverkehr und im wissenschaftlichen Beirat Radverkehr dabei. In dieser Konstellation haben wir im Vorfeld erarbeitet, welche Vor- und Nachteile es hat, das Thema Fahrradverleihsysteme im nationalen Radverkehrsplan anzupacken. Als dann die öffentliche Ausschreibung zur Vorbereitung des Wettbewerbs und der späteren Umsetzung kam, hatten wir nicht genug Kapazitäten, wurden jedoch vom BMVBS mit ins Boot geholt, da wir die entscheidenden Akteure alle kennen. In diesem Kontext haben wir in dieser Arbeitsgemeinschaft das Thema öffentliche Leihfahrräder übernommen. Generell war mir die Idee der Integration von Fahrrad und öffentlichem Nahverkehr in meinem Berufsleben bereits mehrfach begegnet.

F: Die Stadt Hamburg hat erst Anfang 2008 eine Radverkehrsstrategie verabschiedet und sieht sich nun mit der enormen Herausforderung konfrontiert, ein 1.700 km langes Radroutennetz, das größtenteils den Standards der 1950er – 70er Jahre entspricht, auf den heutigen Planungsstand zu bringen – sprich: das Rad auf die Straße zu holen. Dies gestaltet sich jedoch aus zahlreichen Gründen als sehr schwierig und langwierig. Wie ist ihre Einschätzung zu der Thematik?

A: In Berlin war das auch kein Prozess von dem einen Tag auf den anderen. Das sternförmige Hauptroutennetz ist das erste Mal in den 1980er Jahre beschlossen worden und als letztendlich angefangen wurde dies umzusetzen, war es 2000. Nicht immer kommt natürlich eine Wende dazwischen, die die Themen anders setzt, aber das volle ernst nehmen des Fahrrads als städtisches Verkehrsmittel hat in Berlin im Abgeordnetenhaus schon wesentlich früher eingesetzt als in Hamburg. Deshalb muss man der Stadt Hamburg jetzt Zeit geben, diesen Prozess der Umstellung zu durchlaufen. Das Thema wurde vor kurzem bei einer Schulung der Fahrradakademie des Difu in Hamburg diskutiert. Die Tatsache, dass es dort 1700 Kilometer an Radwegen gibt, die den heute erforderlichen Mindeststandards nicht entsprechen, und die man nie im Leben ausbauen oder ersetzen kann, schon wegen der Kosten und der vorhandenen Kapazitäten, führt zu der Konsequenz, dass man den Radverkehr irgendwann auch planerisch auf die Straße führen muss. Diese Veränderungen werden nicht tabuisiert, aber sie sind teuer und es wird dauern, die Akzeptanz für solche Veränderungen zu erhöhen. Bis man merkt, dass das Radfahren auf der Straßen kein Teufelszeug ist, sondern die Stadt lebendig macht und hält, da wird einige Zeit vergehen. Hamburg ist eine der letzten Städte, die angefangen haben, in eine solche Richtung zu denken, bis vor kurzem war nur eine einzige Person für Radverkehr zuständig. Hier gibt es also viel nachzuholen. Die Radverkehrsstrategie wurde vor nur zwei Jahren nach Berliner Vorbild aufgelegt, aber über Nacht sind hier Veränderungen nicht möglich. Hamburg ist ja auch mit der Parkraumbewirtschaftung nicht weit, die haben bis vor zwei Jahren eine ganz stramm autoorientierte Entwicklung gehabt. Viele Planungen, die man heute umsetzt, sind vor fünf oder zehn Jahren abgestimmt worden und die gleichen Leute, die sich damals auf einen Kompromiss geeinigt haben, heute aber anders denken, haben nun Schwierigkeiten, Dinge von damals neu aufzurollen. Die Verkehrspolitik ist in dieser Hinsicht ein schwerer Tanker, da darf man die Hoffnung jetzt nicht aufgeben. Ich glaube, dass die Stadt relativ schnell vorankommen wird. Das Fahrradverleihsystem StadtRAD, das letztes Jahr in Betrieb gegangen ist, hat gezeigt, dass eine Masse von Leuten bereit ist das Fahrrad zu nutzen, das hilft Hamburg ein paar Jahre zu sparen.

F: StadtRAD Hamburg hat sich ja innerhalb weniger Wochen zu Deutschlands erfolgreichstem Fahrradverleihsystem mit bald 500.000 Ausleihen entwickelt. Was sind ihrer Meinung nach die Hauptgründe für den Erfolg, bzw. die bisherige Entwicklung?

A: Die Netzdichte und der Tarif sind ein in Deutschland einmaliges Angebot und zudem passt der technische Anspruch des Systems, mit der schnellen automatisierten Entleihe per Terminal, in das kulturelle Umfeld der Stadt. Auch am Wochenende wird das System vor allem durch Innenstadtbesucher in der großflächigen Stadt viel genutzt.

F: Was könnten auf allgemeiner Ebene weitere Kriterien sein, Fahrradverleihsysteme zu beurteilen?

A: Der Erfolg dieser Systeme ist, dass sich das Image des Fahrrads wandelt, dass zusätzliche Bevölkerungskreise das Fahrrad als Teil der alltäglich verfügbaren Mobilitätsoptionen begreifen. Insoweit befördern sie das multimodale Verständnis und Denken von Verkehr. Nicht umsonst lässt sich mit den Systemen gut werben, weil dieser Neuigkeitseffekt immer wieder da ist, man guckt hin und begreift, dass dies ein Teil des städtischen Lebens ist, der früher nicht da war. Auch die Gesundheitswelle befördert das Thema, es passt einfach zum derzeitigen Zeitgeist. Das System ist insofern von der Akzeptanz her ein großer Erfolg geworden. Dennoch darf man nicht übersehen, dass es nur einen kleinen Teil der Verkehrsquote darstellt und das Klimaproblem nicht lösen wird. Aber als Katalysator um Umweltthemen und weitere Fahrrad- oder nicht motorisierte Themen zu befördern sind diese Systeme sehr wichtig. Die Forderung nach guter Infrastruktur geht damit natürlich einher, da es stärker auffällt, wenn Radwege nicht verfügbar sind. So wird das Verständnis von guter Infrastruktur in eine fahrradfreundliche Richtung verändert.

F: Wie ist Ihre Einschätzung zu stärkeren Restriktionen gegenüber dem MIV, Stichworte Maut, Parkraumbewirtschaftung oder Umweltzonen?

A: Man muss hier zwischen zwei Ebenen unterscheiden. Auf der städtischen Ebene wird die Wichtigkeit von diesen Steuerungsinstrumenten meist erkannt, da Städte aufgrund des steigenden Verkehrssaufkommens nicht umhin kommen, diese einzuführen. Ländliche Abgeordnete hingegen sind häufig noch der Meinung, das Auto wäre zu wichtig, um Gegenstand von Restriktionen zu sein. Da sich diese ländliche Ebene im Moment bei den Entscheidungsträgern quantitativ in der Überzahl befindet, gibt es bundeseinheitlich derzeit keinen Ansatz. Aktivitäten gibt es immer wieder in den Städten, so wird z.B. in Stuttgart eine Parkraumbewirtschaftung eingeführt, Berlin ist dabei sie auszudehnen. Das Thema City-Maut ist so lange tabuisiert worden, das Deutschland da etwas zurückhängt, aber wir lernen auch von Stockholm. Das wird also diskutiert, auch unter fiskalischen Aspekten angesichts der finanziellen Situation. Ich denke, diese Steuerungsinstrumente werden stärker werden, auch weitere Maßnahmen. Ebenfalls in die Diskussion geraten sind Nahverkehrsabgaben, d.h. Abgaben auf ÖPNV-Erschließung als Arbeitgeberabgabe oder über eine Veränderung der Grundsteuer zur Eindämmung der Zersiedlung. Darüber hinaus diskutiert die Bundesregierung auch wieder über die Abschaffung der Entfernungspauschale.

F: Immer wieder ist von Forderungen zu lesen, dass in der STVO eine sogenannte „Carsharing-Haltestelle“ geregelt werden soll, um Carsharing-Anbietern privilegierten Parkraum zur Verfügung zu stellen. Können Sie etwas zu dieser Diskussion sagen?

A: Es gab verschiedene Anstöße zur Änderung der Straßenverkehrsordnung, um diese privilegierte Parkplätze für das Carsharing zu schaffen. In unserem Rechtssystem sind aber Privilegien im Straßenverkehr untersagt, bis auf ein paar wenige Ausnahmen. In Bezug auf Carsharing ist das sehr kompliziert, da die Frage aufkommt, ob man das Anbieterunabhängig macht oder nicht und auch, wie man Carsharing genau abgrenzt. Die Bundesländer haben sich nicht geeinigt, u.a. mit dem Hinweis, Carsharing könnte dem Absatz des Automobilstandorts Deutschland schaden. Carsharing ist jedoch weiterhin auf der Tagesordnung, eventuell gibt es hier einen weiteren Anlauf, z.B. im Zusammenhang mit dem Ausbau von Elektroauto-Tankstellen im öffentlichen Raum, wo man ähnliche Privilegien brauchen wird.