Die Diskussion um die richtige Infrastruktur für Radfahrende und zukünftige Radverkehrspolitik geht weiter: Nach der Reaktion von Ludger Koopmann (Stellvertretender Bundesvorsitzender ADFC) hat Prof. Heiner Monheim nochmal eine Antwort formuliert. Wir freuen uns darüber, dass die Diskussion fortgesetzt wird. 

Die vorhergehenden Diskussionsbeiträge auf urbanophil in der Übersicht:

  1. 30. Nov 2016: „ADFC beschließt geschützte Radspuren (protected bike lanes) – Das Ende vom Radfahren unter Autos (vehicular cycling)?“, von Dr. Tim Lehmann und Tim Birkholz.
  2. 02. Feb 2017: „Zur aktuellen Debatte in der Fahrradszene und speziell beim ADFC über die Entwicklung von Radverkehrsanlagen“Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.
  3. 08. Feb 2017: Fahrradland Deutschland.Jetzt! – Neues Denken für mehr Radverkehr, Ludger Koopmann

 

Heiner Monheim, Trier/Bonn/Malente

Vorbemerkung: Meine Anmerkungen zum Thema „Mischung, Integration und Separation“ von Fahrverkehren haben weitere Kommentare ausgelöst. Mir scheint, dass in der Debatte die historische Entwicklung deutscher Radverkehrsplanung von den Kritikern integrativer Lösungen nicht hinreichend beachtet wird. Das gilt auch für die Positionierung des ADFC. Daher versuche ich nachfolgend nochmals folgende Aspekte in Erinnerung zu rufen:

  • Warum war es lange Zeit sehr schwer, fahrbahnseitige Lösungen überhaupt durchzusetzen?
  • Warum wurde in den 1970er und 80er Jahren der Radverkehr weitgehend zu Lasten der Fußgänger bedient?
  • Warum spielte die Debatte um Verkehrsberuhigung und speziell Verkehrsberuhigung von Hauptverkehrsstraßen eine große Rolle für die Radverkehrsplanung?
  • Warum sollten in der Debatte künftige Mengenentwicklungen des Radverkehrs und Differenzierungen der Fahrradnutzung mehr Beachtung finden?
  • Warum wird sich das Bedrohungs- und Gefährdungspotenzial des KFZ-Verkehrs mittelfristig verringern (wegen fortschreitender Verkehrsberuhigungspolitik, Entwicklung des autonomen Fahrens und der intelligenten Straßenverkehrssteuerung)?
  1. Angebots- und Radfahrstreifen/Spuren lange tabu: In den Diskussionsbeiträgen wird unterstellt, seit den 1980er Jahren hätten die Radverkehrsplaner fahrbahnseitige Radverkehrsanlagen präferiert, in einer Art ideologischer Fixierung auf diese Lösungen. Diese Annahmen entsprechen in keiner Weise der Realität der Planungsdebatten in den 1980er und 1990er Jahren. Vielmehr wurden in vielen Orten fahrbahnseitige Lösungen massiv torpediert, im Wesentlichen von der Autolobby (wie auch immer die sich örtlich firmierte, sei es ADAC, Verkehrswacht, Einzelhandel, IHK…) und der Autolobby nahestehende Parteien.
  2. Radverkehr wurde zu Lasten der Gehwege bedient: Normale kommunale Praxis waren in dieser Zeit die markierten Radfahrstreifen auf Gehwegen (in der Regel durch simple Halbierung der ohnehin meist schmalen Gehwege) oder die Freigabe der Gehwege für den Radverkehr. Beides waren in doppelter Hinsicht problematische Lösungen, denn sie bedienten den Radverkehr zu Lasten der Fußgänger und sie zwangen dem radverkehr eine schwierige Slalom- und Hindernisfahrt auf den Gehwegen auf. Im Ergebnis führte das zu einem verheerenden Imageschaden des Radverkehrs, das Klischee vom „Rüpel Radfahrer“ war geboren, das ihm leider bis heute „anhaftet“.
  3. Fahrbahnen galten als unantastbar: Auf der anderen Seite verfestigte sich durch diese Praxis das Klischee der „Unantastbarkeit“ von Fahrbahnflächen des KFZ-Verkehrs. Deswegen führte dann fast jeder Versuch, ausnahmsweise doch mal dem Radverkehr Platz auf der Fahrbahn zu schaffen, zu einem Aufstand in den politischen Gremien und bei der örtlichen Autolobby (vgl. Ziff. 2).
  4. Viele Fahrbahnen überdimensioniert: Bei nüchterner Betrachtung dagegen konnte für weite Teile des innerörtlichen Hauptverkehrsstraßennetzes nachgewiesen werden, dass die Fahrbahnflächen überdimensioniert war, also viele Fahrbahnen vierstreifig waren, obwohl bis 20.000 – 24.000 DTV zwei Streifen reichen würden und dass viele Fahrbahnen im Querschnitt mit 7-9 m bei zweistreifiger Führung oder 14-18 m bei vierstreifiger Führung dimensioniert waren, obwohl bei sparsamer und städtebaulich sensibler Dimensionierung deutlich weniger Fahrbahnbreite notwendig wäre. Im Kreuzungsbereich waren durch Schmalfahrspuren und Kombispuren sogar vielfach noch deutlich mehr Platzgewinne möglich. Diese chronische Überdimensionierung war der Hauptgrund für die fast immer unverträglich hohen Fahrgeschwindigkeiten auf Hautverkehrsstraßen.
  5. Pilotprojekte erst Ende der 1980er Jahre: Mühsam gelang es in den 1980er Jahren mit einigen Modellvorhaben in NRW, Ba-Wü und Berlin sowie vorherige Modellvorhaben in Dänemark und den Niederlanden schmälere Hauptverkehrsstraßen mit guten Erfolg zu erproben. Wobei die Umverteilung der Flächen je nach Umfeld mal für breitere Gehwege, für Alleepflanzungen oder für neue Radverkehrsanlagen genutzt werden konnten. Beim Radverkehr gab es sowohl Fälle mit nachträglicher Anlage separater Radwege wie auch von Angebots- und Radfahrstreifen.
  6. Massive Opposition der Autolobby gegen fahrbahnseitige Lösungen: Trotz solcher Beispiele wurden solche Lösungen lange Zeit politisch gebremst. Die meisten aktiven und motivierten Radverkehrsplaner (in freien Planungsbüros wie auch lokalen Behörden) aus dieser Zeit werden bestätigen, dass – trotz der überzeugenden Untersuchungsergebnisse der ersten Pilotprojekte zu umgestalteten Hauptverkehrsstraßen und zu Angebots- und Radfahrstreifen – die Umsetzung solcher Konzepte äußerst schwierig war (siehe Ziff. 2).
  7. Erst in den 1990er Jahren gelingt Etablierung der Markierungslösungen: Es gelang erst mühsam in der Auseinandersetzung mit den Fachbehörden und der FGSV, diese Elemente (mit zunächst sehr eingeschränkten Einsatzgrenzen) ins offizielle Planungsrepertoire hineinzubringen.
  8. Durchbruch erst ab 2000: Erst ab ca. 2000 haben sich dann die fahrbahnseitigen Markierungslösungen breiter durchgesetzt, nachdem sie auch amtlich Eingang in die ERA gefunden hatten. Danach kam es in zahlreichen Orten zu einer schnellen Netzkomplettierung mit Hilfe solcher Elemente, weil sie bau- und markierungstechnisch viel einfache umsetzbar sind als separate, gebaute Radwege.
  9. Mengenprobleme und Probleme der Seitenflexibilität: Neuerdings spielt in der Debatte unter vorausschauenden Radverkehrsplanern ein lange in Vergessenheit geratener Aspekt, nämlich das Mengenproblem, eine Rolle. Wo der Radverkehr schnell zunimmt und Radfahrer von der Ausnahme zur Regel im Verkehrsraum werden und wo sich im Zuge solcher Entwicklung die sozio-demographische Zusammensetzung der Radfahrenden und technische Zusammensetzung der Fahrradflottem ausdifferenziert und es mehr schnelle und langsame, mehr Alltags- und Gelegenheitsradler, mehr alte und junge Radler, mehr Lastenfahrräder und Fahrradanhänger, mehr elektrisch unterstützte und rein muskelgetriebene Fahrräder gibt, wächst deutlich der Flächenbedarf des Radverkehrs. Die Geschwindigkeitsdifferenzen und Überholvorgänge innerhalb des Radverkehrs nehmen zu. Deswegen brauchen Radverkehrsanlagen mehr Kapazität und Seitenflexibilität. Baulich eingegrenzte Radverkehrsanlagen und Radverkehrsanlagen auf Gehwegen können das nicht bieten. Wohl aber bieten Fahrbahnen ausreichend Reserven und Seitenflexibilität.
  10. Geschwindigkeitsniveau als zentrales Kriterium: Für alle diese Fragen ist das zentrale Kriterium der objektiven und subjektiven Sicherheit das Geschwindigkeitsniveau des KFZ-Verkehrs. Lange Zeit galten Niedriggeschwindigkeitsszenarien verkehrspolitisch und verkehrsplanerisch als tabu. Das ändert sich derzeit im Zuge von Luftreinhalteplänen und Lärmaktionsplänen, aber auch Verkehrssicherheitsprogrammen. Tempo 30 kommt mittlerweile auch als normale Höchstgeschwindigkeit für innerörtliche Hautverkehrsstraßen mit dichter Randbebauung in Betracht. Spätestens mit der verbreiteten Einführung des autonomen Fahrens und der intelligenten Straße wird eine zuverlässige Geschwindigkeitskontrolle üblich werden. Unter dieser Prämisse ist das Bedrohungs- und Gefährdungspotenzial des KFZ-Verkehrs deutlich verringert und die Möglichkeit gemischter Abwicklung unterschiedlicher Fahrzeugverkehre deutlich vergrößert.

Fazit: Ich folgere:

  • die Debatte sollte mehr „geschichtsbewußt“ und weniger „prinzipienreiterisch“ geführt werden.
  • Entscheidend für die Wahl eines Entwurfselements muß immer das jeweilige städtebauliche und verkehrliche Umfeld sein und bei Planung im Bestand sind die Spielräume für perfekte Lösungen nach der „reinen Lehre“ selten gegeben, daher müssen dort fast immer Kompromisse gefunden werden.
  • Im Interesse des Radverkehrs ist es, möglichst schnell komplette Netze aus sinnvollen Radverkehrsanlagen zu schaffen. Dabei sind sowohl Netze mit überwiegender Führung über gering belastete Anliegerstraßen (möglichst oft im System von Fahrradstraßen verbunden) als auch Netze über Hauptverkehrsstraßen sinnvoll.
  • Wo immer der Platz reicht und die Belange des Fußverkehrs nicht negativ betroffen sind, sollte durchaus versucht werden, separate Radverkehrsanlagen (aber dann ausreichend breit und gegenüber den Risiken aus dem Querverkehr ausreichend gesichert) zu schaffen.
  • Das können vielfach auch Radschnellwege sein.
  • Der ADFC ist gut beraten, die Debatte differenziert zu führen und die ca. 10-15 „alten Hasen“, die 50 Jahre Radverkehrspolitik und -Planung überblicken und auch die niederländischen und dänischen Verhältnisse kennen, in die Debatte einzubeziehen.
  • Alle Kritiker integrierter Lösungsansätze sollten beachten, dass sie unbeabsichtigt, aber trotzdem leider symbolhaft, der Autolobby Vorschub leisten, die immer schon den Radverkehr an den Rand drängen wollte und Fahrbahnen des KFZ-Verkehrs zu Tabuflächen erklären wollte.
  • Last not least: man schaue sich historische Fotos aus den 1920er Jahren ab. Da wimmelte es überall in Europa auf den Straßen von Radfahrern, Querschnittsbelastungen von über 10.000 Radfahrern waren häufig und diese nutzten natürlich die gesamte Fahrbahn, Autos waren selten und hatten sich dem Radverkehr unterzuordnen. Das wär heute wieder eine schöne Zielvorstellung für die Zukunft des Radverkehrs.

Für den überörtlichen Radverkehr ist die Debatte um fahrbahnseitige Angebotsstreifen ja erst kürzlich eröffnet worden. In der Schweiz gibt es dieses Netzelement auf außerörtlichen klassifizierten Straßen schon lange mit guten Erfolg. In Deutschland war diese Lösung lange „tabu“, mit fatalen Konsequenzen für die Netzentwicklung. Denn konventioneller separater Radwegebau außerorts dauert endlos lange (Grunderwerb, Naturschutz). Kostet sehr viel und daher ist der Netzfortschritt an außerörtlichen Bundes- und Landesstraßen weiter minimal. Schneller Netzfortschritt erfordert hier ebenfalls die Bereitschaft zu sparsamer Dimensionierung der Kernfahrbahn und Abtreten von Flächen für Angebotstreifen, flankiert durch entsprechende Tempolimits.


Die Diskussion auf urbanophil in der Übersicht:

  1. 30. Nov 2016: „ADFC beschließt geschützte Radspuren (protected bike lanes) – Das Ende vom Radfahren unter Autos (vehicular cycling)?“, von Dr. Tim Lehmann und Tim Birkholz.
  2. 02. Feb 2017: „Zur aktuellen Debatte in der Fahrradszene und speziell beim ADFC über die Entwicklung von Radverkehrsanlagen“Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.
  3. 08. Feb 2017: Fahrradland Deutschland.Jetzt! – Neues Denken für mehr Radverkehr, Ludger Koopmann
  4. 23. Feb 2017: Radverkehr: Fortsetzung der Infrastruktur-Debatte – eine Reaktion von Heiner Monheim, Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.