Falls es zu Weihnachten revolutionäre Literatur sein soll: 2 Bücher zur Radentscheid-Bewegung

Die Frage steht mal wieder im Raum: Was zu Weihnachten verschenken? Die urbanophile Idee für schönere Städte lautet: Verschenke einen Radentscheid! Oder vielleicht sogar zwei und zwar als Buch! 2019 sind zwei Bücher zur deutschen Radentscheid-Bewegung erschienen und die taugen beide ziemlich gut als inspirierende Revolutions-Lektüre für die ruhigen Tage: 

Die Weihnachtsüberraschung 2015 für die Berliner Politik: Der Berliner Volksentscheid Fahrrad

Der Radentscheid als Weihnachtsgeschenk, das ist auch eine schöne Analogie zur Enstehung der Radentscheid-Bewegung. Denn aus einer lokalen Idee vor vier Jahren, viel Engagement (und der Wut) von ein paar engagierten Berlinerinnen und Berlinern ist mittlerweile nicht nur Deutschlands erstes Mobilitätsgesetz geworden, sondern eine deutschlandweite Bewegung. Mitten in die Weihnachtszeit 2015 sickerte die Nachricht in den Berliner Politikbetrieb und erwischte den damaligen Senator Geisel auf dem völlig falschen Fuß: “Ich vermute, dass so ein Volksbegehren nicht erfolgreich ist.” ließ er sich in einem der ersten Interviews zum Volksentscheid Fahrrad zitieren.

Ein paar Zahlen zur Radentscheid-Bewegung

Wie unglaublich falsch Senator Geisel mit dieser Einschätzung gelegen hat, lässt sich mit einigen spektakulären Zahlen zeigen. Denn der Berliner Volksentscheid Fahrrad hat nicht nur die lokale Verkehrspolitik verändert: 

  • 26 Radentscheide gibt es mittlerweile bundesweit, davon ca. 15 – 20 mit begonnener oder bereits abgeschlossener Unterschriftensammlung. Darunter Städte wie München, Stuttgart, Frankfurt, Darmstadt, Aachen, Rostock und eben Berlin und Bamberg (eine laufend aktualisierte Liste aller Radentscheid-Twitter-Accounts gibt es übrigens hier).
  • 700.000 Unterschriften sind bald bundesweit für die verschiedenen Radentscheide gesammelt worden. Das ist mehr als 1% der wahlberechtigten deutschen Bevölkerung. Eine unglaubliche Zahl, wenn man bedenkt, dass jede dieser Unterschriften handschriftlich geleistet wurde.
  • 19,2 % aller Wahlberechtigten haben in Aachen für den – in Relation zur Einwohnerzahl – bislang erfolgreichsten Radentscheid unterschrieben.
  • Mit mehr als 200.000 Unterschriften hat Aufbruch Fahrrad als erste Radentscheid-Initiative eines Flächenlandes dafür gesorgt, dass Nordrhein-Westfalen ein eigenes “Radverkehrsgesetz” bekommen wird.   
  • Und die 105.425 Unterschriften in 3 ½ Wochen waren laut Eigenwerbung “Berlins schnellster Volksentscheid” und haben mit dazu beigetragen, dass sich deutschlandweit andere Menschen gedacht haben: Das probieren wir jetzt auch! 

Für diese deutschlandweit bereits aktiven Menschen und für potentielle Neu-AktivistInnen sind die beiden “Radentscheid-Bücher” ziemlich gute Weihnachtsgeschenke. Und übrigens auch für kommunale (Rad-)Verkehrsplaner, ADFCler, VCDler, etc. Wobei man etwas differenzieren muss, für wen welches Buch geeignet ist. Aber der Reihe nach: 

Rezension: Der Berlin-Standard

Ganz oberflächlich betrachtet ist der Berlin-Standard zunächst einmal das deutlich schönere Buch. Opulentes Querformat, wirklich schöne Bilder und Grafiken, schickes Layout und knackige, pointierte Sprache. Der Anspruch und die hohe Qualität, die der Volksentscheid Fahrrad rund um das Team von Heinrich Strößenreuther neu in die (rad-)politische Debatte gebracht hat, zeigt sich auch in diesem Buch.

Der Berlin-Standard eignet sich zum schnellen Durchblättern und Anschauen, aber eben auch zur vertieften Lektüre und zum Inspiration finden. Und zwar sowohl für den (potentiellen) Aktivisten (oder die Aktivistin!), als auch für kommunalen Planende oder BürgermeisterInnen. Strößenreuther unterteilt kommunale Strategien in “Quick Win”, “Basic”, “Must Do” und “System- und Netzstrategien” und liefert, hübsch verpackt, einmal das Komplett-Paket, worum es bei moderner Radverkehrsplanung geht. Das Ganze wird illustriert mit Einschätzungen zu Umsetzungsdauer und Finanzbedarf. 

Nebenbei ist das Buch ein kleines “Familien-Album” des Berliner Volksentscheid Fahrrad. Viele relevante Akteure der Initiative und der deutschen Radverkehrspolitik kommen zu Wort und sparen nicht mit (berechtigtem) Lob für den gewaltigen Umbruch, den die Initiative in Rad-Deutschland erreicht hat. Am besten fasst das Albert Herresthal, der Geschäftsführer des VSF e.V. (ein Interessensverband der deutschen Fahrradindustrie) zusammen: die “Initiative Volksentscheid Fahrrad [hat] in zwei Jahren politisch mehr bewirkt als wir etablierten Fahrradverbände in einer Dekade.” Das ist bemerkenswert ehrlich und leider auch sehr wahr.

Kurzum: Mit dem Buch kann man überhaupt nichts falsch machen. Wer Inspiration, Motivation und Mut für den eigenen Veränderungswillen benötigt (an welcher Stelle auch immer man sitzt im System), dem sei “Der Berlin-Standard” wärmstens ans Herz gelegt. Selbst weniger Rad-affine Menschen werden eine gute Zeit damit haben und vermutlich ein paar “Aha-Momente” erleben. Der Berlin-Standard – so ehrlich muss man sein – dient allerdings eher zur Inspiration und Motivation, denn als Vorbereitung auf die Realität bei der Umsetzung eines Radentscheides in kommunalen deutschen Verkehrsverwaltungen. Die letzte Seite des Buches, mit dem Kapitel “P.S.: Dit is Berlin!”, bestätigt dem Leser denn auch, dass sich der Autor dessen bewusst ist. 

Rezension: Was möglich ist – der Radentscheid Bamberg

Im Prinzip setzt “Was möglich ist” genau dort an, wo “Der Berlin-Standard” aufhört. Nämlich an der Schaltstelle zur Realität, wenn engagierter, moderner Fahrrad-Aktivismus auf kommunale deutsche Verkehrspolitik und -planung trifft. Und an dieser Stelle muss immer wieder neu erkämpft, verhandelt und erstritten werden, “was möglich ist”. 

Das Buch von Christian Hader ist in dieser Hinsicht keine ausschließlich lokale Geschichte, sondern liefert vermutlich die Blaupause eines jeden Radentscheids in den Mühen der kommunalpolitischen Ebenen. Denn das die politische Übernahme der Ziele einer Radentscheid-Initiative (z.B. durch ein Mobilitätsgesetz wie in Berlin) keineswegs die sofortige Veränderung des lokalen Handelns von Politik und Verwaltung im Verkehrsbereich bedeutet, das erfährt nicht nur Changing Cities in Berlin derzeit. Das hat auch der Radentscheid Bamberg ein ums andere Mal erfahren. Trotz großen Rückhalts in der Bevölkerung und trotz anderer lokalpolitischer Verlautbarungen. 

Dieser – mitunter mühselige – Prozess aus erfolgreichem und kreativem Campaigning und politischen Gegenmanövern, wird von Christian Hader sehr spannend beschrieben. Er schildert die Entwicklung der Bamberger Initiative von der ersten Inspiration (s. oben, natürlich aus Berlin) bis zur erfolgreichen ersten Stufe des Bürgerbegehrens und der Übernahme der Ziele des Radentscheids durch die lokale Politik und dem anschließenden “zurück auf die Straße”. Dazu gibt es ein extra Kapitel mit den Erfolgsgeheimnissen der Initiative. Das Buch wird abgerundet durch einen 20-seitigen Beitrag vom ebenfalls sehr erfolgreichen Radentscheid Darmstadt.

“Was möglich ist” ist somit das ideale Buch für alle, die sich ebenfalls konkret mit dem Gedanken umtreiben, eine lokale Radentscheid-Initiative zu gründen (oder alternativ für all diejenigen, die planen ihre in die Jahre gekommenen lokalen ADFCs, VCDs oder BUNDs zu modernisieren). 

Die Bücher können auf der Seite vom Thiemo Graf-Verlag bestellt werden. 

Direkt zum “Berlin-Standard”

Direkt zu “Was möglich ist”

Disclaimer: Der Autor ist bei dieser Rezension auf gar keinen Fall zu einem neutralen Urteil in der Lage gewesen, da er eines der Gründungsmitglieder vom Berliner Volksentscheid Fahrrad ist und dementsprechend die Entwicklung der bundesweiten Radentscheide mit einer gewissen Genugtuung verfolgt.