Am 30. November 2016 wurde hier auf urbanophil der Artikel “ADFC beschließt geschützte Radspuren (protected bike lanes) – Das Ende vom Radfahren unter Autos (vehicular cycling)?” veröffentlicht, als Kommentar zu einer aktuellen Debatte um Fahrrad-Infrastruktur. Der Kommentar wurde fachlich intensiv diskutiert und war der meistgelesene Artikel auf urbanophil im Jahr 2016. Darüber freuen wir uns sehr.
Noch mehr freut uns, dass der Kommentar Prof. Dr. phil. Heiner Monheim zu einer ausführlichen Replik motiviert hat, mit der Bitte, diese hier auf urbanophil zu veröffentlichen. Monheim ist Professor für Angewandte Geographie, Raumentwicklung und Landesplanung an der Universität Trier (seit 2011 Emeritus) sowie Mitbegründer und -inhaber des raumkom-Instituts für Raumentwicklung und Kommunikation.
Der Bitte um Veröffentlichung kommen wir hiermit gerne nach. Wir freuen uns über konstruktive Kommentare und eine Fortsetzung dieser wichtigen Diskussion.
Dr. Tim Lehmann und Tim Birkholz
Update, 08. Februar 2017: Auf den vorliegenden Kommentar von Heiner Monheim ist eine Antwort von Ludger Koopmann, Stellvertretender Bundesvorsitzender des ADFC erschienen. Zu diesem geht es hier entlang.
Heiner Monheim, Trier/Bonn/Malente
Zur aktuellen Debatte in der Fahrradszene und speziell beim ADFC über die Entwicklung von Radverkehrsanlagen, speziell den Beiträgen von Tim Lehmann und Tim Birkholz
Vorbemerkung:
Da ich seit ca. 1960 die deutsche und europäische Radverkehrspolitik kritisch begleitet habe, Gründungsmitglied von ADFC und VCD bin und viele Modellprojekte zum Radverkehr initiiert, moderiert oder evaluiert habe, drängt es mich, den aktuellen Disput um Mischung und Separation zu kommentieren.
1. In dem Beitrag von Lehmann/Birkholz wird viel Bezug genommen auf die amerikanische Debatte um „protected bike lanes“ und „vehicular cycling“. Diese Debatte hat aber in der deutschen Radverkehrsdebatte kaum eine Rolle gespielt. Die deutsche Debatte um Separation und Mischung war viel stärker geprägt von den Erfahrungen mit der Verkehrsberuhigung, insbesondere der auf Verkehrs- und Hauptverkehrsstraßen. Mischnutzung von Verkehrsflächen wurde erstmals mit der vermehrten Einrichtung von Fußgängerzonen (Zulassen von Lieferverkehr sowie teilweise auch ÖPNV und Radverkehr in Fußgängerzonen) und verkehrsberuhigten Bereichen (Zulassen von Radverkehr, Fußverkehr und Aufenthalt in gemischt genutzten „Fahrgassen“) unter der Prämisse verringerter Fahrgeschwindigkeiten in relevantem Maße etabliert, durchweg mit guten Ergebnissen für die Verkehrssicherheit und Attraktivität solcher Lösungen für den Umweltverbund. Dabei ging es immer vor allem um die Mischnutzung ehemaliger Fahrbahnflächen des KFZ-Verkehrs. Die viele Jahre vorher praktizierte Mischnutzung von (meist ohnehin sehr schmalen) Gehwegen durch den Radverkehr durch Halbierung in ½ Fußstreifen und ½ Radstreifen wurde von den meisten Planern seit Ende der 1970er Jahre abgelehnt, wegen der massiven Konflikte und Sicherheitsrisiken.
2. In den 1980er Jahren begann dann die Debatte um neue Planungsansätze für Hauptverkehrsstraßen, im Zusammenhang mit dem Wunsch nach besserer städtebaulicher Integration, Geschwindigkeitsdämpfung und mehr Sicherheit. Tendenziell wurde erkannt, dass die meisten innerörtlichen Hauptverkehrsstraßen mit ihren klassischen 3,50 m Fahrspurbreiten überdimensioniert sind, dass also durch Umprofilierung für Kombispuren oder Schmalfahrspuren vielfach 3-5 m bisherige Fahrbahnfläche umverteilt werden können, sei es für breitere Gehwege, für Baumpflanzungen oder für Radverkehrsanlagen. In diesem Zusammenhang waren schmalere Hauptverkehrsstraßen besonders problematisch, weil es hier weniger umverteilbare Fläche gab, die Konflikte zwischen Fuß- und Radverkehr besonders stark waren und daher vielfach ohnehin nur „Quetschmaße“ für alle Verkehrsarten möglich waren. Daher musste man den Radverkehr runter von den Gehwegen holen, konnte ihm aber keine voll auskömmlichen Radwegbreiten im Fahrbahnbereich geben. So entstanden die ersten Projekte für Angebotsstreifen oder Radfahrstreifen als Formen der Seitenraummischnutzung zwischen KFZ-Verkehr (insbesondere LKW und Busse) und Radverkehr.
3. In der Debatte um die Sicherheit des Radverkehrs und Fußverkehrs spielten zwei gut datengestützte Erkenntnisse eine Rolle, die von Lehmann/Birkholz aus mir unbekannten Gründen „madig gemacht“ werden: Dominant für die Gefährdungen sind die Konflikte mit dem Querverkehr an Grundstückszufahrten und Einmündungen, die ca. 70 % aller schweren Unfälle mit Radverkehrs- und KFZ-Beteiligung ausmachen. Diese Konflikte haben viel mit der Sichtbarkeit der Radfahrer zu tun, die im Seitenraum schlecht ist. Generell gilt als wichtigster Sicherheitsgrundsatz „sichtbar Radeln“, also jederzeit im Blickfeld des Konfliktgegners. Die natürliche Haltelinie eines ein- und abbiegenden oder querenden KFZ ist der Fahrbahnrand. Wenn abgesetzt davon Radverkehr geführt wird, wird er dort nicht erwartet. Um dieses Manko auszugleichen, muss man schon die ganze Batterie von Beschilderung, Bodenmodellierung und Flächeneinfärbung auffahren, was in den meisten Kommunen nicht geschieht. Zudem führt das Radeln im Seitenraum zu sehr häufigen Konflikten mit dem Fußverkehr in Längs- wie in Querrichtung, weil Fußverkehr nicht spurbezogen abläuft, stark mäandriert und seine natürliche Haltelinie beim Queren erst am Fahrbahnrand des KFZ-Verkehrs hat.
4. Das ist keine Generalabsage an separate Radwege, die immer dann durchaus Sinn machen und sicher sind, wenn ausreichend Platz für auskömmliche Radwegbreiten vorhanden ist und die Konflikte mit dem Fußverkehr aufgrund ausreichender Restbreiten für die Gehwege oder weiter Absetzung von den KFZ-Fahrbahnen und Gehwegen möglich sind. Je abgesetzter aber die Radverkehrsführung erfolgt, umso wichtiger werden die flankierenden Maßnahmen zur Sicherung gegenüber dem Querverkehr.
5. Im weiteren Verlauf der Planungszyklen wurde dann zwei weitere Optionen der Mischnutzung von KFZ-Verkehr und Radverkehr entwickelt:
- Die Tempo 30 Zone, bei der im Normalfall keine Separation des Radverkehrs erfolgt. Allerdings blieb diese Option auf das Erschließungsstraßennetz beschränkt, Hauptverkehrsstraßen konnten bis vor kurzem nur punktuell mit T-30-Regelungen belegt und nicht in Tempo-30-Zonen integriert werden,
- Als Sonderform der gemischten Fahrbahnnutzung die Fahrradstraße, die üblicherweise in Tempo-30-Zonen liegt, als lineares Netzelement mit rechtlicher Option für Rudelradeln und Fahrradpriorität, aber in der Regel immer noch integriertem KFZ-Verkehr. Leider wurden Fahrradstraßen lange nur insulär und singulär eingesetzt, erst allmählich beginnen Kommunen, damit auch Netzüberlegungen zu verbinden und in größerer Zahl Fahrradstraßen einzurichten, um attraktive Nebennetze abseits der Hauptverkehrsstraßen anzubieten (z.B. Münster, Bonn, München). Aber richtig systematisch wird das Element nirgendwo eingesetzt, denn dann müssten pro Stadt mehrere hundert von Fahrradstraßen geschaffen werden. Und vor allem kommen Fahrradstraßen für Hauptverkehrsstraßen einstweilen noch nicht in Betracht.
6. Bei der Debatte über die verschiedenen Führungsformen des Radverkehrs darf man nicht nur einzelne Straßen und Querschnitte isoliert betrachten, sondern muss gesamtstädtische Netzaspekte und Zeitaspekte der schnellstmöglichen Netzkomplettierung betrachten. Dabei muss auch klar sein, dass die psychologische Wahrnehmung der Attraktivität und Sicherheit bzw. Unsicherheiten von Straßennetzen und Radverkehrsnetzen (leider) ganz stark auf die großen Hauptverkehrsstraßen und großen Kreuzungen fixiert ist. Deswegen müssen auch Hauptverkehrsstraßen mit möglichst sicheren Radverkehrsanlagen ausgestattet werden, selbst, wenn es im Erschließungsstraßennetz viele Tempo-30-Zonen, verkehrsberuhigte Bereiche und evtl. auch Fahrradstraßen gibt. An Hauptverkehrsstraßen gibt es je nach Ausgangslage nur zwei denkbare Strategien, nachträglich Radverkehrsanlagen anzubieten:
- Entweder kann an mehrstreifigen Hauptverkehrsstraßen eine komplette Fahrspur eingezogen und dem Radverkehr gewidmet werden, dann kann man auf 3 -3,50 m eine opulente Radfahrspur einrichten. Dann hat man aber auch sofort den Protest von IHK, ADAC, Einzelhandelsverband etc. „an der Backe“, weil das als Frontalangriff auf den Autoverkehr wahrgenommen wird. Faktisch dürfte die Hälfte aller innerörtlichen mehrstreifigen Hauptverkehrsstraßen wegen KFZ-Verkehrsmengen unter 20.000 DTV eigentlich eine Fahrspur abgeben, ohne dass der KFZ-Verkehr leidet, aber die Debatten werden ja meist irrational geführt
- Oder die Verkehrsmenge ist so groß (größer 20.000 DTV), dass das nicht geht oder der Mut so klein, dass das als nicht machbar gilt, dann bleibt nur die Quetschmaßmethode, also werden die KFZ-Fahrspuren verschmälert und Platz für einen dann leider nur etwas bescheideneren Angebots/Radfahrstreifen geschaffen. Oder die Hauptverkehrsstraße hat nur eine Fahrspur in jede Richtung und der Querschnitt reicht nicht für eine eigene, separate Radverkehrsanlage (weil dann zu wenig für die Gehwege übrig bleibt), dann helfen auch hier nur sog. „Quetschmaße“, also Schmalfahrspuren plus Angebotsstreifen.
7. Aus 30 Jahren Disput über dieses Dilemma wurde dann als eine Art Kompromiss zwischen den „eiligen, geübten Radfahrern“ und den Gelegenheitsradlern (Kinder, Ältere, Seltenradler) ergänzend die sog. Fakultativlösung erfunden, bei der dem Radverkehr zwei Optionen eröffnet wurden, einerseits (langsames) Mitradeln auf den Gehwegen für die „ungeübten“, denen subjektiv das Radeln auf den Angebotsstreifen zu unsicher ist, andererseits die Benutzung der Angebotsstreifen für die geübten und weniger risikoscheuen Radler. Diese Fakultativlösung wurde allerdings relativ selten eingesetzt, weil den Planern und Politikern die Sensibilität für solche Befindlichkeiten fehlte.
8. Ein anderer Konflikt der Radverkehrsplanung kann den Konflikt noch besser verdeutlichen, nämlich der Disput um das direkte und indirekte Abbiegen in Knoten:
- Das direkte Abbiegen mit oder ohne Unterstützung durch eigene Spurmarkierungen ist die typische Verhaltensweise geübter Radfahrer. Es erfordert aber das Manövrieren im Bereich der KFZ-Fahrspuren und daher ein gewisses Maß an Erfahrung und Fahrsicherheit.
- Das indirekte Abbiegen ist umständlicher, wird gelegentlich – aber eher selten – durch eigene Aufstellmarkierungen unterstützt und ist die typische Variantenwahl ungeübter Radfahrer.
Auch hier hilft kein Ideologiestreit, sondern beide Optionen müssen fakultativ bedacht werden. Das wird durch den typisch deutschen Wunsch nach „Eindeutigkeit“ leider oft verhindert.
Fazit
Man kann verstehen, dass der ADFC sich etwas reibt, wenn die radverkehrsplanerischen Debatten primär zwischen „Profis“ aus der Kategorie der geübten Radfahrer geführt werden. Es ist gut, wenn inzwischen verstärkt auch „Neuradfahrer“ als Um- und Aufsteiger gesucht werden und in den Maßnahmen repräsentiert werden. Und dass sich der ADFC verbandpolitisch diesen Selten- und Gelegenheitsradlern besonders verbunden fühlt, weil er sie ja zu Aufsteigern machen will.
Das darf allerdings nicht dazu führen, dass gesicherte Erkenntnisse der Forschungen zu objektiver Sicherheit missachtet werden, wenngleich es auch nützlich ist, Fragen des subjektiven Sicherheitsempfindens mit zu bedenken. Aus Netzüberlegungen heraus führt auch künftig kein Weg daran vorbei, verstärkt mit Angebotsstreifen zu arbeiten, die im Übrigen auch in den Niederlanden und Dänemark eine große Rolle spielen, dort gibt es aber tatsächlich auch deutlich mehr gut dimensionierte separate Radwege, die traditionell auch gut geplant sind, mit ausreichender Sicherung gegenüber dem Querverkehr.
Für den überörtlichen Radverkehr ist die Debatte um fahrbahnseitige Angebotsstreifen ja erst kürzlich eröffnet worden. In der Schweiz gibt es dieses Netzelement auf außerörtlichen klassifizierten Straßen schon lange mit gutem Erfolg. In Deutschland war diese Lösung lange „tabu“, mit fatalen Konsequenzen für die Netzentwicklung. Denn konventioneller separater Radwegebau außerorts dauert endlos lange (Grunderwerb, Naturschutz), kostet sehr viel und daher ist der Netzfortschritt an außerörtlichen Bundes- und Landesstraßen weiter minimal. Schneller Netzfortschritt erfordert hier ebenfalls die Bereitschaft zu sparsamer Dimensionierung der Kernfahrbahn und Abtreten von Flächen für Angebotstreifen, flankiert durch entsprechende Tempolimits.
Die Diskussion auf urbanophil in der Übersicht:
- 30. Nov 2016: „ADFC beschließt geschützte Radspuren (protected bike lanes) – Das Ende vom Radfahren unter Autos (vehicular cycling)?“, von Dr. Tim Lehmann und Tim Birkholz.
- 02. Feb 2017: “Zur aktuellen Debatte in der Fahrradszene und speziell beim ADFC über die Entwicklung von Radverkehrsanlagen”, Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.
- 08. Feb 2017: Fahrradland Deutschland.Jetzt! – Neues Denken für mehr Radverkehr, Ludger Koopmann
- 23. Feb 2017: Radverkehr: Fortsetzung der Infrastruktur-Debatte – eine Reaktion von Heiner Monheim, Prof. Dr. phil. Heiner Monheim.