Neue Herangehensweisen an die Wahrnehmung von urbanen Räumen haben momentan Konjunktur. Begründet liegt dies in einem gesteigerten Interesse an urbanen Prozessen und den individuellen Lebensumwelten, die über unterschiedliche Formate bewusst gemacht und erlebt werden können.

Das Buch »En passant – Reisen durch urbane Räume: Perspektiven einer anderen Art der Stadtwahrnehmung«, das aus der Stadterfahrungsreihe der Kölner Architektur-biennale »Plan« im Jahr 2008 hervorgegangen ist, greift vier unterschiedliche Positionen zur Stadtwahrnehmung auf und präsentiert diese in Form einer erweiterten Dokumentation der zugrundeliegenden Spaziergänge.

Abb. Cover des Buches "En passant", Jovis Verlag Berlin

Abb. Cover des Buches “En passant”, Jovis Verlag Berlin

Die vier Protagonisten, die von den Herausgebern und Andreas Denk, dem Chefredakteur der Zeitschrift »der Architekt«, eingeladen wurden Spaziergänge durch die Kölner Innenstadt zu entwickeln, praktizierten diese im Rahmen der Veranstaltung und reflektieren diese in ihren Texten, die im Buch versammelt sind. Mit Markus Ambach, Bertram Weisshaar, Boris Sieverts und Cristian von Wissel konnten zugleich vier der aktivsten Protagonisten der Stadtwahrnehmungsszene gewonnen werden, die Einblicke in ihre Sicht-, Denk- und Vorgehensweise gaben.

Herausgekommen sind vier unterschiedliche Blicke auf die Kölner Innenstadt, die die Fokussierung auf die Qualitäten unentdeckter alltäglicher Räume und ihrer Potentiale legen. Markus Ambach spezialisiert sich hierbei auf die Repräsentation der Stadtnatur, die er in wildem, wie domestizierten Zustand vorfindet und sichtbar macht. Ambach, der entlang seines Spaziergangs die Funktionalitäten des Einsatzes und der Anordnung von natürlichem aufzeigt, verbindet in seiner Betrachtungsweise die Reste einer symbolhaften Darstellung von Natur, die kulturell bedingt darauf begründet ist, Natur zu zähmen und gezielt effekthaft einzusetzen, um konkrete Bilder zu erzeugen.

Bertram Weisshaar, von Hause aus Landschaftsplaner und Spaziergangs-wissenschaftler, hat sein Handwerk bei Lucius Burckhardt in Kassel gelernt. Er beschäftigt sich mit den zentralen Fragen der Gestaltung von Stadt und Landschaft und versteht das Gehen in der Stadt als ein Format, die Logik des Öffentlichen Raums zu verstehen. Durch das Gehen werden sowohl die Machtverhältnisse sowie die Widersprüche geplanter Räume offensichtlich und können somit kritisch hinterfragt werden. Durch die Präsenz vor Ort können z.B. Fragen nach Verkehrshierarchien oder nach alternativen Nutzungsmöglichkeiten für einseitig gewidmete Funktionsräume konkret gestellt und diskutiert werden. Zu einer solchen Hinterfragung lädt Weisshaar auf seinen Spaziergängen unter dem Label „Atelier Latent“, bis heute ein. Gerade hat er selbst ein Buch über die Spaziergangswissenschaften in Praxis herausgegeben, das bald ebenfalls auf Urbanophil rezensiert werden wird.

Wie Weisshaar zielt Boris Sieverts auf eine individuelle Erfahrung seiner Rezipienten, die durch die Vorarbeit und Kenntnis der Protagonisten bereichert und befördert wird. Sieverts, der mit seinem »Büro für Städtereisen« unterschiedlich komplexe Spaziergangserfahrungen ermöglicht, steuert dem Buch ein Projekt bei, innerhalb dessen er eine »Schule des Sehens« anbietet. Angeregt vom Durcheinander und Nebeneinander des Kölner Stadtbildes versuchte er über strukturbildende Elemente eine Ordnung herzustellen, die er über die Komposition einer Wegstrecke zusammenfasste. Heraus kam ein Spaziergang auf der »Via Sacra« Kölns, über den Sieverts die Viertel jenseits aber doch sehr nahe an der eigentlichen City, über die Verbindung der lokalen Kirchen und interessanten Momenten zwischen ihnen erschließt. Folgt man dem von Sieverts vorgeschlagenen Weg eröffnen sich interessante Persoektiven auf Quartiere, die oftmals nicht nur Köln-Touristen, sondern auch Einwohnern verborgen bleiben. An diesen Rändern der Wahrnehmung passieren viele Prozesse unbeachtet von einer breiteren Öffentlichkeit. Die sehr diskret verlaufenden Transformationen können so unterhalb des Aufmerksamkeitsradius verlaufen und Quartiere mageblich verändern. Sieverts macht diese Prozesse sichtbar und deckt auf diese Weise die politische Dimension der Stadtentwicklung auf. Auf diese Weise kann seine Arbeit als Subversiv bezeichnet werden, das sie etablierte Machtverhältnisse aufzeigt, deren Sprache entlarvt und ihnen den unverwechselbaren Charakter der Quartiere als Wert gegenüber stellt.

Eine ähnliche Strategie verfolgen die »Citámbulos« aus Mexiko City, die, vertreten durch Christian von Wissel einen Spaziergang durch die »Wahrnehmungswelten zweier Städte« anbieten. Über die vom mexikanischen Kollektiv veranstalteten Spaziergänge sollten die Städte Mexiko City und Köln in einen Dialog treten und Anstöße geben ein differenteres Bild von urbanen Räumen, ihrer Widmung, der Eigen- und Fremdwahrnehmung, der Probleme, aber auch der Chancen und Potentiale zu entwickeln. Wichtig ist den Protagonisten dabei, die Spaziergänge als Anlass zu nehmen den Rezipienten Fragen zu stellen, die ihr Verhältnis zur eigenen Stadt fokussiert. Sie interessieren besonders Räume des Alltäglichen und das, was diese Räume an Seh- und Denkmaterial zu Verfügung stellen. In Köln war es der Stadtteil Porz, der als Terra Incognita das Interesse der »Citámbulos« anzog. Gemeinsam untersuchten sie die Strukturen des Stadtteils, Sprachen mit EinwohnerInnen über ihr Verhältnis zu Porz und besichtigten die ansässige Moschee als Counterpart zum allgegenwärtigen Dom. Die »Citámbulos« bewegen sich in Form eines »Dérives« durch das lokale Raumgeflecht und folgen von Punkt zu Punkt jeweils wechselnden Aufmerksamkeiten. Auf diese Weise ist es möglich die eigene Stadt neu zu erfahren und ein anderes Verständnis für den Raum, die Bewohnerschaft und die lokalen Eigenheiten zu entwickeln. Dynamiken wie Privatisierung, Segregation oder Transformation werden vor Ort erlebt und können dort mit lokalen Akteuren diskutiert werden. Dies ist der große Vorteil des ziellosen Herumstreifens, das von der Situationistischen Internationale schon in den 1960er Jahren als situativer Urbanismus praktiziert und methodisiert wurde.

Die Texte sind allesamt sehr persönlich geschrieben und mit unterschiedlichen weiterführenden Materialien angereichert. Das verbindende Element ist die Frage nach Funktionalität und Nutzung von Stadträumen und Strategien diese ins Bewusstsein zu holen. Auf diese Weise kann eine kritische Haltung gedeihen, die die politischen Verhältnisse und Machtstrukturen hinterfragt und herausfordert. Gehen schärft somit nicht nur das visuelle Wahrnehmen, sondern auch das Sehen und Erkennen urbaner Dynamiken und Prozesse. Auf diese Weise ist Gehen nicht nur eine Fortbewegungsart sondern besitzt auch eine politische Dimension.

Das Buch hat mir sehr gut gefallen, vor allem auch deshalb, da die Spaziergänge seit 2008 nichts an aktualität verloren haben. Im Gegenteil. Die politische Dimension von Machtverhältnissen, die sich über die vier angerissenen Themenbereiche zeigt, hat sich noch verschärft. In Berlin zeigt sich dem wahrnehmenden Flaneur vielerorts der Widerspruch zwischen der Anpassung an klimatische Veränderung und des gleichzeitigen Ausbaus der MIV-Infrastruktur. Dieser muss oftmals wichtige Natur, in Planerdeutsch auch gerne „Restgrün“ genannt, weichen. Wer also den Blick für diese Prozesse schärfen möchte, findet in dem Buch Hilfestellung und auf der DVD konkrete Hinweise. Doch Vorsicht! Spaziergänger gelten oft als subversiv. Nach der Lektüre weiß auch jeder warum…

Nachtrag: Die auf der DVD befindlichen Filme werden am Freitag den 19. Juni in Kooperation mit dem Spaziergangslabel “mikromakrowelt” im Rahmen des Spaziergangswochenendes gezeigt. Weitere Informationen im Laufe der Woche auf Urbanophil oder ab sofort hier

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Kay von Keitz und Sabine Voggenreiter [Hrsg.] »En passant – Reisen durch urbane Räume: Perspektiven einer anderen Art der Stadtwahrnehmung«
128 Seiten Hardcover mit DVD und 51 farb. Abbildungen
ISBN 978-3-86859-061-6, Preis 19.80€
Erschienen im Juni 2010

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