Quelle: Kilian Flade

Für viele progressive Planer:innen klingt es zu schön, um wahr zu sein: Die größte autoreduzierte Innenstadt der Welt plant der „Volksentscheid Berlin autofrei“. Im Herbst 2019 noch als kleine Gruppe zusammengefunden umfasst das Team der Initiative mittlerweile rund 100 Berliner:innen, die sich ehrenamtlich engagieren und organisieren. Da der Senat ihrer Ansicht nach keine ausreichenden Maßnahmen für eine echte Verkehrswende ergriffen habe, nahmen sie die Sache selbst in die Hand. Und nun steht ihr Gesetzentwurf fest. Was genau das Team fordert? Welche Hürden dafür noch genommen werden müssen? Welches neue Instrument dafür eine Schlüsselrolle spielt? All das hat urbanophil-Redakteur Kilian Flade bei der Online-Pressekonferenz des Volksentscheids herausgefunden.

Auf den Namen des Volksentscheids angesprochen erklärt Pressesprecherin Nina Noblé, zunächst, dass es sich bei dem „autofrei“ viel mehr um eine Vision für die Zukunft handle. Denn tatsächlich sei ja erst einmal eine deutliche Autoreduzierung geplant. Autos und deren Besitz verbieten will die Initiative nicht, dazu fehle auch der rechtliche Rahmen. Vielmehr soll der Autoverkehr innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings, eine Fläche von rund 88 Quadratkilometern, auf notwendige Fahrten reduziert werden. Weiterhin uneingeschränkt fahren sollen mobilitätseingeschränkte Personen, Handwerker:innen, die Feuerwehr, Lieferverkehr und Personen, die anderweitig auf ihr Auto angewiesen seien. Das vorgelegte Gesetz sieht vor, diesen Personengruppen langfristig gültige Ausnahmegenehmigungen zuzustehen. Dagegen sollen alle anderen Berliner:innen angeregt werden, nicht notwendige Fahrten künftig nicht mehr mit dem Auto zu machen um den motorisierten Individualverkehr in Berlin deutlich zu reduzieren. Autofahrten ohne Begründung sollen nach dem Gesetzentwurf innerhalb des S-Bahn-Rings künftig nicht mehr möglich sein.

Und warum das alles?

Ziel der Initiative ist es, die Lebensqualität aller Berliner:innen zu verbessern. Innerhalb des Rings, aber auch außerhalb, wo die Mehrheit der Berliner:innen wohnt. So soll durch den Gesetzentwurf für mehr Verkehrssicherheit gesorgt werden. Dies ist bitter nötig, denn alleine im Jahr 2020 sind 50 Menschen im Berliner Stadtverkehr gestorben, darunter 17 Radfahrer:innen. Dies stellt eine Verdreifachung der Berliner Radverkehrstoten des Jahrs 2019 dar. Ebenso soll durch den Volksentscheid ein entscheidender Beitrag für mehr Klimaschutz geleistet sowie eine gerechtere Verteilung des Raums in der Stadt erreicht werden. Eindrücklich schildert das Team der Initiative, dass in Berlin bereits jetzt rund drei Viertel der Wege ohne Auto zurückgelegt würden. Dagegen nähmen Flächen für Autos jedoch über 60 Prozent der Verkehrsfläche ein. Darüber hinaus sei ein Auto durchschnittlich 23 Stunden am Tag geparkt und blockiere rund zehn Quadratmeter des wertvollen öffentlichen Raums.

Das Erbe der autogerechten Stadt

Zu diesen Ungerechtigkeiten kommt es durch Jahre der Bevorteilung des motorisierten Individualverkehrs in der deutschen Stadt- und Verkehrsplanung. Das Paradigma der „autogerechten Stadt“ etablierte sich in den 1960er Jahren und veränderte Städte weltweit nachhaltig. Da mag es manchmal in Vergessenheit geraten, dass Verkehrsräume öffentliche Räume sind und deren Nutzung als Fläche für Autos keineswegs ein natürliches Gesetz ist. Gefordert wird seit Jahren von Vielen ein neuer, zeitgemäßer Urbanismus, der die Belange des Klimaschutzes, der (Flächen-)Gerechtigkeit, der Aufenthaltsqualität und der Verkehrssicherheit stärker beachtet und konsequenterweise eine Um- bzw. Neuverteilung des öffentlichen Raums zur Folge hat.[1]

Nach Ansicht der Initiative tue der Senat nicht genug

Tatsächlich hat sich auch Berlin eine „Verkehrswende“ verschrieben – diese jedoch bisher nach Ansicht des Volksentscheids nicht konsequent umgesetzt. „Der Senat hat kein sinnvolles Konzept für eine zukunftsweisende und gerechte Verkehrswende, kritisiert Manuel Wiemann, Sprecher der Initiative. „E-Busse und ein paar Kilometer Radweg in fünf Jahren reichen nicht aus. In Berlin sind zu viele Autos auf der Straße und verschmutzen die Luft durch Reifenabrieb, belegen viel zu viel Platz und gefährden unnötig Menschenleben – egal ob Elektro oder Diesel. Autos sind überall – daran haben wir uns gewöhnt. Aber wo, wenn nicht in Berlin, können wir eine neue Normalität auf der Straße schaffen?“ Das nun vorgestellte “Berliner Gesetz für gemeinwohlorientierte Straßennutzung” wurde bereits von Vertreter:innen der Initiative bei der Senatsverwaltung für Inneres zur Kostenschätzung eingereicht; ein notwendiger Schritt, um das Volksbegehren auf den Weg zu bringen.

Quelle: Initiative Volksentscheid Berlin autofrei | CC BY 4.0
Vertreter:innen der Initiative Volksentscheid Berlin autofrei mit Plakaten.
Der innovative rechtliche Rahmen des Gesetzentwurfs

Tatsächlich stellt das Gesetz einen neuen und innovativen rechtlichen Rahmen für die Forderung der Umverteilung des öffentlichen Raums dar. Per Gesetz sollen die Straßen innerhalb des S-Bahn-Rings zu autoreduzierten Straßen umgewidmet werden und dem sog. Umweltverbund (ÖPNV, Rad- und Fußverkehr) vorbehalten sein. Ausgenommen davon seien Autobahnen sowie Bundesstraßen, da diese in die Kompetenz des Bundes fielen. Einmalig sei laut Initiative ein solches Gesetz in Deutschland. Durch die leichte Übertragbarkeit könnten davon auch andere Städte profitieren.

Von der Idee zur Umsetzung

Hinsichtlich der Umsetzung in die Praxis sieht das Gesetz eine vierjährige Übergangsphase vor und könnte also, sollte das Gesetz wie von der Initiative erhofft im Jahr 2023 in einem Volksentscheid beschlossen werden, 2027 in Kraft treten. Zunächst hat der Senat nun zwei Monate Zeit, eine amtliche Kostenschätzung zu erstellen. Das Gesetz sieht vor, dass zwölf private Fahrten pro Jahr weiterhin mit einem Auto gemacht werden können, sofern diese denn notwendig sind. Genannt werden beispielsweise der Transport eines Schranks oder Erholungsfahrten ins Umland. Diese Fahrten sollen über ein Online-Portal unbürokratisch angemeldet werden können. Langfristig hofft die Initiative, dass Berliner:innen, die nicht dauerhaft auf ein Auto angewiesen sind, ganz auf den Besitz eines Autos verzichten. Dies würde auch zu freieren Straßen für diejenigen führen, die ein Auto benötigen.

Ein Paradigmenwechsel in der Berliner Verkehrspolitik

Mit Mut, einer radikalen Idee und viel Expertise wagt sich das Team der Initiative somit auf zu neuen Ufern und zeigt sich dabei offen für Anregungen und Kritik – denn nicht in allen Feinheiten ist der Vorschlag der Initiative bisher bis ins Detail ausgereift. Gelungen ist der Initiative aber, die von vielen gehegte Vision einer fair(er)en Umverteilung des städtischen öffentlichen Raums erstmals in ein Gesetz zu gießen. Nicht vergessen darf bleiben, dass es sich dabei um einen radikalen Ansatz handelt, der nicht weniger als einen Paradigmenwechsel in der Berliner Planungskultur und Verkehrspolitik fordert – einen absolut überfälligen jedoch, nach Ansicht des Autors.


[1] Aglaée Degros and Stefan Bendiks, Traffic Space Is Public Space: Ein Handbuch Zur Transformation, 1. Edition (Zürich: Park Books, 2020), p. 24.