Die Tage werden länger und jetzt ist die beste Zeit des Jahres, den schönsten Blickpunkt zum Fernsehturm einzunehmen: Karl-Liebknecht-Straße, Ecke Hirtenstraße. Hirtenstraße ist diese kleine Gasse die vom Babylon hinters Babylon führt. Wenn Mensch sich in dieses Gässchen wagt, begegnet uns an der Ecke ein sehr grosser kräftiger Herr. Etwas versteckt, weil mittlerweile ziemlich zugewachsen, daher unbedingt in Winter zu besuchen, weisst uns der Herr mit ausgestreckter Hand freundlich darauf hin, was er und seinesgleichen hier einst taten. Bauen natürlich. Und zwar nix geringeres als den Fernsehturm, dessen Kugel er in den Fingern seiner kräftigen Hand hält (wenn nicht gerade Drei der größten Feinde des Sozialismus – Frühling, Sommer, Herbst – den Blick zuwachsen lassen).
Ich liebe es auf meinen Spaziergängen nachzugucken ob gerade der Blick möglich ist, eine kurzes Weilchen des Innehaltens – den genauen Platz suchen, schauen – sich freuen und weiter geht es.
Neuerdings lockt in Richtung Alex die nächste gebaute Geschichte: Nach dreißigjährigen Dornröschenschlaf ist die Hecke der Steakhaus-Reklame gefallen und die roten Kacheln des Pressecafés leuchten wieder.
Ich wäre natürlich nicht ich, wenn ich es hier unterlassen würde darauf hinzuweisen das die Bilder des rote Frieses einen echten urbanen Comic bilden. „Comics sind eine Sequenz von Bildern“ lautet die Definition der Comic-Theorie, und ganz nebenbei wurde der eigentliche Comic (mit Sprechblasen) ja gerade IN den Großstadtzeitungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts erfunden. Schade nur das die namensgebende Zeitung („Die Presse als Organisator“, Pressecafé, Haus des Berliner Verlages) von hier weggezogen ist. Immerhin sind die Beschriftungen „Pressecafé“ und ganz oben auf dem Treppenturm das rotierende „Berlin Verlag“ noch vorhanden.
Die Fassadenbeschriftungen geben uns einen Fingerzeig was bei der Erfindung des Comics einfach von der Stadt übernommen wurde: das Leben in den Straßen kombiniert mit den Reklameüberzogen Häuserfassaden. Bild und Text, nicht säuberlich getrennt sondern urban verschränkt.
Doch auf den Weg vom grossen Bauarbeiter zum urbanen Comic, habe ich noch etwas vergessen, vielleicht weil gerade die Kollegen des grossen Mannes hier noch am werkeln sind. Jedenfalls ist die Hochhausscheibe der nicht gerade superhübschen Architektur in den letzten Jahren ordentlich saniert worden. Saniert? Iwo, hier wurde gerade die Fassade REKONSTRUIERT. Igitt! Etwas was nicht mehr im Orginal vorhanden war, wurde orginalgetreu, in alter Technik, oder was – nun ja. Hoffentlich bilden sich hier nicht irgendwelche Initiativen die den Abriss verlangen! Jedenfalls um es kurz zu machen: nach der Wende wurde die Vorhangfassade in die Tonne getreten und nun wurden die alten (K)lamellen wieder angebracht. Und siehe da: diese Breschnew-Kolossal-Säulen, nein Lamellenfassade gliedert die alte Scheibe wieder vorzüglich. Die schwere horizontal gegliederte Fassade, ist jetzt verschleiert hinter einer vertikal, fast schon gotisierenden Lamellen-Lisenen Fassade, angeblich zweckdienlich für den Sonnenschutzes (der natürlich gewohnt horizontal und nicht vertikal funktionieren tut).
Näheren wir uns wieder des Ausgangspunktes unseres kleinen Spazierganges: der Hirtengasse, nein -straße. Die verendet früher ziemlich kläglich an der Rückseite der Hochhausscheibe. Die war natürlich nie durch gotische Alu-Lamellen verschönert worden. Die gegenüberliegende Altbausubstanz, die allerletzten Restchen des wahrhaftigen Scheunenviertels sollten natürlich weggerissen werden, doch Problem mit den grossen Feinen des Sozialismus (u.a. Frühling, Sommer, Herbst und Winter) verhinderten dies. Im real existierenden Kapitalismus war es natürlich umgekehrt: da sollte die Hochhausscheibe weg, aber Probleme verhinderten dies…
Und mensch mag sich wundern in solch kriegerischen Zeiten wie unser: es gibt ihn doch den dritten Weg! Vielleicht nicht wirklich zwischen Sozialismus und Kapitalismus, aber manchmal und wahrscheinlich Ausnahmsweise in der Berlin Architektur. Denn das Ende der Hirtengasse, die Rückseite der Scheibe wurde neu bebaut. Und endlich mal – es war bestimmt der Geist des grossen Mannes – gut gebaut!
Ja natürlich es ist eine Blockrandbebauung, was auch sonst. Sozial, günstige Wohnungen – wohl kaum.
Aber: die Höhe der gegenüberliegenden Altbauten wurde eingehalten – wie gewöhnlich – aber was toll ist: nicht öde mit Art-Deco flachen Treppendächern ohne Wolkenkratzer, sondern schräg sind die Dächer des Neubaus. Fast schon gotisch steil!
So schräg wie die Scheunendächer die hier einst waren in der Scheunengasse Nummer X. Die schrägen Dächer erzählen also eine Geschichte, aber der Neubau leugnet nicht welchen Kindes Zeit er ist: vom nicht vorhanden Sockel bis zum Dachfirst ist alles Gas, durchsichtig spiegelnd. Und jetzt nach Blockrandbebauung, Dachschräge und Glas gibte es noch das Sahnehäubchen: auf der dann doch öden Glasfassade erstreckt sich eine rythmisch gegliederte Lamellen-Fassade. Nicht irgendeine: die Breschnew-Fassade der Scheibe ist hier einfach um die Ecke gezogen worden. Das ist der Dritte Weg hör ich meinen grossen Freund (nicht Bruder) wispern. Schau – Du hälst es in deiner Hand.