„What is so interesting about downtown? I’ll tell you something: it is a crazy place full of crazy people!“
Verrückt kann man sie schon nennen, diese Stadt. Und besonders das Zentrum von Kairo: wo der Verkehr braust, das Hupen der Autos den hohen Geräuschpegel bestimmt, die vielen Menschen nicht nur auf dem Trottoir laufen, sondern vor allem auf den Straßen, wo viele Händler ihre Waren lauthals verkaufen und der Smog in der Luft hängt. Wenn man genauer hin(auf)schaut, erkennt man sie: die Perlen der Architektur. Denn all die kaputten Fassaden und die maroden Gebäude bergen viel Geschichte und viele Geschichten. Um diese zu bewahren, haben Vittoria Capresi und Barbara Pampe 2015 ein Buch geschrieben. Gemeinsam mit Studierenden machen sie das Unsichtbare sichtbar und lassen Bewohner und Nutzer über 38 Gebäude und ihre Erinnerungen an sie sprechen.
So entsteht ein Gedächtnisspeicher der Innenstadt Kairos, der persönliche Erinnerungen mit der Baugeschichte – detaillierte Pläne und Typologien der Gebäude – verknüpft. Das Buch zeichnet auch die architektonische Entwicklung der Innenstadt, vor allem des 20. Jahrhunderts, nach. Es gibt Einblicke in die sich verändernden Nutzungen der Häuser und somit auch in die Umbrüche in der Kairoer Gesellschaft. Beispielsweise berichten die Nutzer über Probleme der Instandhaltung der Wohnungen, den großen Leerstand, die Umwandlung der meist herrschaftlichen Wohnungen in Büros und über zunehmenden Lärm beziehungsweise Verkehr in der Stadt. Aber auch Kindheitserinnerungen („Mein Großvater baute dieses Haus und ich wohne noch hier.“), enge nachbarschaftliche Verbindungen („Die Bewohner aller Apartments trafen sich regelmäßig auf dem Dach und die Kinder spielten dort.“) und gesellschaftliche Probleme werden hier beschrieben: jüdische Eigentümer, die ihre Wohnungen aufgrund der politischen Situation Mitte der 1950er Jahre verlassen mussten oder Mieter, die während der Revolution 2011 Demonstranten mit Lebensmitteln und Medizin versorgt oder ihnen Schutz geboten haben.
Die Gebäude sind in diesem Buch chronologisch dokumentiert und die Erforschung der Innenstadt wird durch thematische Touren ermöglicht. Die „Dolce-Vita-Tour“ führt zu Kinos, Bars, Cafés und Häusern von berühmten Persönlichkeiten und der „Romantische Rundgang“ zeigt Häuser mit pompösen Treppenhäusern, fein gestalteten Balkonen und faszinierenden baulichen Details. Die „Modernistische Tour“ beherbergt auffällige Bauten mit klaren Linien und modernen Formen, der Rundgang „Urbaner Kontext“ zeigt Gebäude mit besonderer städtebaulicher Bedeutung. Die Autoren bieten auch eine Best-of-Tour an: eine ganz persönliche Liebeserklärung an die Kairoer Innenstadt und deren Bewohner.Zusätzlich geben kurze Zwischentexte Einblicke in spezifische Themen: Wohntypologien in der Innenstadt, Balkone in der Stadt oder die Wohnungsbaupolitik unter Präsident Nasser, der die Mietpreise für Altbauten eingefroren hat und so den Verfall der reichen Altbausubstanz zu verantworten hat. Eben diesen Verfall hält das Buch mit Hilfe von zahlreichen Fotos auf und durch die lebendigen Erzählungen hat man die Schönheit der Häuser zumindest vor dem inneren Auge.
Der arabische Philosoph Muhammed Abu Hamed schrieb 1457 „Hast du Kairo nicht erblickt, so hast du die Welt nicht gesehen.“ Das mag sein. Und wer keine Zeit hat, nach Kairo zu reisen, der lese dieses Buch. Und kommt so dieser dreckigen, lauten und verrückten Stadt, die so viel Geschichte und Schönheit zu verbergen hat, sehr nahe.
Luise Flade
Vittoria Capresi, Barbara Pampe (Hrsg.): Discovering Downtown Cairo. Architecture and Stories, 272 S., ca. 100 farb. Abb., Englisch, 32,- Euro, Jovis, Berlin 2015, ISBN 978-3-86859-296-2
Der Text ist zuerst erschienen auf der Webseite von der architekt.